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Interview: Visions-Veranstaltung in Biel

Sarah Zurbuchen, Journalistin für die Zeitungen Bieler Tagblatt & ajour.ch hat Raffael Wüthrich im Vorfeld der Visions-Veranstaltung in Biel befragt. Wir bringen hier das Interview in voller Länge. Im Original ist es auf ajour.ch zu lesen oder auch zu hören.

Zukunftsvisionen für Biel: «Wir wursteln herum und haben keine gemeinsame Stossrichtung»

Am 9.2. befragt Raffael Wüthrich in Biel Menschen nach ihren Zukunftsvisionen. Der Gründer des Instituts «Monda Futura» sucht gemeinsame Nenner und arbeitet auf deren Verwirklichung hin.

Raffael Wüthrich, auf der Website von «Monda Futura» steht, wir sollten endlich aufhören, herumzuwursteln. Was meinen Sie damit?

Raffael Wüthrich: Damit ist gemeint, dass wir keinen gemeinsamen Plan haben, wie wir auf diesem Planeten zusammen haushalten können. Wir nehmen uns kaum Zeit, um einmal einen Schritt zurückzutreten und aus der Distanz zu schauen, was wir hier eigentlich machen. Wie kann es sein, dass wir Menschen auf den Mond gebracht haben, aber gleichzeitig Angst davor haben müssen, dass das Geld nicht mehr zum Leben reicht? Wie kann es sein, dass wir künstliche Intelligenzen entwickeln, aber gleichzeitig unsere Lebensgrundlagen zerstören? Wir wursteln herum und haben keine gemeinsame Stossrichtung. Und wenn doch, hat dies wenig mit Sinn, Schönheit, Entfaltung der Talente oder dem Gemeinwohl zu tun, sondern mit einem Korsett, das wir uns anziehen müssen, weil alles auf dieser Welt über Geld organisiert ist.

Also wollen Sie die ganze Schweiz zum Träumen bringen. Ist das nicht etwas ehrgeizig?

Doch! Aber ich möchte niemandem ein fertiges Projekt überstülpen, sondern die Menschen fragen: «Was willst du eigentlich?» Das Institut «Monda Futura» will in einem ersten Schritt die Menschen nach ihren Träumen, ihren Bedürfnissen befragen. Dazu wollen wir an sogenannten Visionsveranstaltungen wie der vom 9.2. in Biel so viele Leute befragen, bis wir möglichst die ganze Breite der Gesellschaft abgedeckt haben. Das ist ein grosses Vorhaben, der Zeithorizont ist deshalb auch lange. Wenn wir schliesslich aufzeigen können: Das sind die gemeinsamen Nenner eines überwiegenden Teils der Bevölkerung für eine lebenswerte Zukunft, dann gewinnt das eine enorme Stärke und ist eine gute Basis für wegweisende Projekte.

Ihr gesetztes Ziel befindet sich in 2073, also in 50 Jahren. Für ein Menschenleben ist das sehr weit weg.

Es ist die Reise, für die wir uns 50 Jahre Zeit nehmen. Mit dem Umsetzen beginnen wir natürlich schon jetzt. Aber 50 Jahre sind eine gute Zeitspanne, um sich Dinge vorzustellen, die nicht in fünf oder zehn Jahren erreicht werden können. Wir möchten die Leute zum Träumen bringen und sie nicht durch ihren inneren Kritiker von den Visionen abhalten. 

Haben Sie denn das Gefühl, man findet in der sehr heterogenen Schweiz überhaupt einen gemeinsamen Nenner?

Das ist die grosse Frage! Ich hege die Hoffnung, dass wir schliesslich herausfinden, dass unsere Bedürfnisse sehr ähnlich sind, zumindest in den Grundzügen. Dazu wollen wir in unseren Visionsveranstaltungen die Leute gedanklich weit hinauskatapultieren. Weg von ihren Alltagssorgen, hinein in eine Zukunft, die sie sich wünschen. Wenn wir uns schon nur auf Grundlagen einigen könnten, wäre das schon sehr viel. Vielleicht kommt dabei etwas ganz Profanes heraus, wie: Wir wollen nicht, dass 2073 noch Leute in Armut leben müssen.

Für diese Visionsveranstaltungen laden Sie Menschen zum geselligen Beisammensein ein. Das tönt ziemlich harmlos.

Es ist harmlos. (lacht) An diesen Veranstaltungen stellen wir schnell eine persönliche und vertrauensvolle Atmosphäre her, lassen die Eispanzer schmelzen, die wir normalerweise so mit uns herumtragen. Träumen ist etwas Intimes, Visionen auszusprechen ist sehr persönlich. Die Leute dürfen dabei angstfrei sein, und es soll Spass machen. Dazu nehmen wir sie bei der Hand. Man muss nichts können und sich nicht vorbereiten. 

Diese Werte sind doch in unserer Verfassung festgehalten. Was ist denn nicht gut an der direkten Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Schweiz?

Mit unserer direkten Demokratie können wir uns glücklich schätzen, keine Frage. Wir haben funktionierende Behörden, Verwaltungen und ein gutes politisches System. Das Problem ist, dass wir uns an manche Dinge in der Bundesverfassung nicht halten. Zudem dürfen wir uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern uns getrauen, zu experimentieren. 

Raffael Wüthrich: «Wie kann es sein, dass wir künstliche Intelligenzen entwickeln, aber gleichzeitig unsere Lebensgrundlagen zerstören?»
Quelle: Anne-Camille Vaucher

Sie wollen einen breiten Konsens finden, ohne der Mehrheit den Vorzug zu geben. Ist das nicht antidemokratisch?

Nein, Konsens zu finden, ist etwas vom Demokratischsten. Das Problem unserer Mehrheitsdemokratie ist, dass 51 Prozent über 49  Prozent der Stimmbevölkerung entscheiden können. Das führt zu grossem Unmut. Es gab gerade in letzter Zeit heftige Abstimmungskämpfe, in denen ein grosser Teil der Bevölkerung übergangen wurde. Unser Demokratiemodell hat noch Entwicklungspotenzial. Das bevorzugte Modell von «Monda Futura» ist das «systemische Konsensieren», das heisst, wir wollen so nah wie möglich an einen Konsens herankommen. Das ist ein aufwendiger Prozess. Aber wir wollen damit verhindern, dass 49 Prozent überstimmt werden. Das systemische Konsensieren ist eine hoch spannende Methode, die noch viel zu wenig bekannt ist.

Wie funktioniert das?

Zu einem Problem werden Lösungsvorschläge gesammelt. Diese werden nicht nach dem Kriterium bewertet werden, welcher der Beste ist, sondern, wo der Konsens am grössten ist. Die Teilnehmenden vergeben Punkte von 0 bis minus 10. 0 heisst, ich habe keinen Widerstand gegen diese Lösung. Minus 10 heisst, ich habe einen sehr starken Widerstand. Damit werden automatisch die Vorschläge an die Oberfläche gespült, die wenig Widerstand auslösen. So ist es unmöglich, eine Minderheit durch einen Mehrheitsentscheid zu drangsalieren. Und dort, wo es wenig Widerstand gibt, kann man genauer hinschauen. 

Kann denn die kleine Schweiz etwas gegen die globalen Probleme bewirken?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es unglaublich schwierig ist, in einer fremden Kultur irgendetwas verändern zu wollen. Aber wo ich am ehesten etwas verändern kann, ist in der Schweiz. Hier kenne ich mich aus, hier bin ich verwurzelt. Wir müssen vor unserer eigenen Türe kehren. Wir sind ein reiches Land und haben deshalb einen guten Hebel, um etwas zu verändern, Dinge besser zu machen. Je reicher ein Land, desto grösser der ökologische Fussabdruck. Wir dürften Vorbild sein, innovative Dinge entwickeln. Und damit meine ich nicht in erster Linie neue Technologie oder Geschäftsmodelle, sondern eher soziale Innovation.

Wer soll in der Umsetzungsphase der Visionen die Aktivitäten, Pilotprojekte oder Prototypen finanzieren?

Das ist eine grosse Frage. Doch darüber will ich gar nicht zu viel nachdenken, denn das schafft wiederum Schranken im Kopf. Geld ist eine künstliche Limitierung, denn Geld ist ja eigentlich keine physikalische Ressource. Geld ist eine Zahl auf einem Papier oder Konto. Man könnte es rein theoretisch nach Belieben herstellen. Trotzdem beschränken wir unsere Möglichkeiten, unser Entfaltungspotenzial immer wieder mit diesem Geld-Korsett. Meine Erfahrung ist, dass ein konkretes Projekt, das offensichtlich zu positiver Veränderung führt und Spass macht, viele Menschen anzieht und an Attraktivität gewinnt. Manchmal löst sich dann auch die Geldfrage von selbst. 

Oder man scheitert.

Ja, scheitern kann man immer und überall. Scheitern ist ein Teil des Lebens. (lacht) Ich glaube, wir dürfen mehr wagen und auch den Mut haben, zu scheitern. Im Moment haben wir hier in der Schweiz noch ein wunderbares Fenster, in dem wir vieles ausprobieren könnten.  

«Wir sollten experimentieren.»
Quelle: Anne-Camille Vaucher

Wie sieht denn für Sie persönlich eine lebenswerte Zukunft aus?

Eine lebenswerte Zukunft ist eine Zukunft, die von Kooperation statt Konkurrenz geprägt ist. In der Menschen versorgt sind mit allem Lebensnotwendigem, wo sie sich in ihren Talenten entfalten und ungezwungen zum Gemeinwohl beitragen können. Eine Welt, in der es mehr Zeitwohlstand, mehr Freizeit gibt, in der wir die Natur nicht kaputtmachen und der ökonomische Druck viel kleiner ist. Eine Zukunft, in der wir den technologischen Fortschritt so nutzen, dass er zum Wohle aller eingesetzt wird statt von wenigen. Es existiert momentan viel zu wenig Forschung, in der es nicht um Kapital und Gewinn geht. Zum Beispiel zur Frage: Wie könnten wir mit möglichst wenig Ressourcen, Energie, Arbeitszeit und ohne Abfall unsere Bedürfnisse befriedigen. Diese Forschung und Praxis müssen wir ausbauen, sollten experimentieren.

Sind Sie nie desillusioniert?

Doch, immer wieder. (stöhnt) Es tut weh, wenn man die Nachrichten schaut. All die schlimmen Meldungen, das kann einem den Atem rauben. Bei mir führt das glücklicherweise meistens dazu, dass sie mich dazu motivieren, aktiv zu werden, zu träumen, wie es anders sein und funktionieren könnte. 

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Raffael Wüthrich

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