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Die Inspektion kommt in die Zona bolo Monti vivaci

Wie jedes Jahr seit 2068 stand heute der offizielle «Besuch» einer ausgewählten experimentellen Community in den verlorenen Tälern des Tessins an. Es war mein erster als Nachfolger des langjährigen kantonalen Inspektors. Ich staunte nicht schlecht, als ich ihn trotz weissem Vollbart erkannte, wie er uns zwei unpassend korrekt gekleidete Staatsbedienstete aus der Mantelschweiz empfing und zuerst die ernste Amtsdame aus Bern Central freundlich begrüsste, bevor er mir grinsend den Oberarm drückte. «Benveni in noschtra Zona bolo Monti vivaci. Bi de Guido.» Das Wort «bolo» bezog sich auf eine nicht auszurottende utopische Idee eines gewissen «P.M.» aus Zürich. Um den Hals trug der braungebrannte alte ex Kollege eine Kette aus …Plastikteilen? Ich konnte mir einen ungläubigen Ausruf knapp verkneifen.

«Kommt, keine Angst, wir tanzen hier nicht mehr alle nackt herum. Zu viele Mücken.» Das könnte schwierig werden, dachte ich, nicht nur wegen dem Sprachenmix hier, den sie «Romanto» nannten. Sondern weil unsere Anwesenheit als ungeliebter Kontrollgang verstanden werden konnte. Dabei hatten die Experimentalzonen mit dem Staat ausgehandelt, zwar die wichtigsten Gesetze einzuhalten, sinngemäss, aber sonst ohne Obrigkeit auszukommen. Do it yourself. Auch ohne Versicherungen, und natürlich galt: ohne Steuerzahlung keine Subventionen.

Das alternative Leben hatte Tradition hier. Spezielle Leute kamen in Wellen, zuletzt mit dem ansteigenden Meeresspiegel. Kurz sinnierte ich, wie ein Archäologe der Zukunft die Ablagerungen lesen würde. Der Prozess lief auf Testbasis. Wir, der Staat, erhofften uns, dass die Gegend nicht ganz verwilderte und, schlau wir wir sind, die Nicht-Anpassungswilligen ein Ventil fanden, wo sie sich austoben konnten, ohne uns Normale zu stören. Dafür gaben wir gerne solche Orte mit ihrer veralteten Infrastruktur gratis her, es gab genug.

Wir Kontroletti stalkten im Gefolge des Sindac del Tschörn, wie Guido sich über die Schulter nannte. Er konnte besser Deutsch als ich. Die alte Struktur des Dorfes aus verschachtelten Rustici war nur knapp erkennbar, alles war überwuchert. «Die Flusssteine sind wie mineralischer Boden. Wir sind praktisch Selbstversorger.» Ich erkannte nur Feigen. Meine achtsame Begleiterin vom Bund stupfte mich still an, auf die Wände deutend – was war das um die Fenster und Türen? Jedenfalls keine bluemeten Trögli… es sah aus wie Pilzwucherungen. Verwahrlosung, Gesundheitsgefährdung, unsichere Bauten? Guido bemerkte den Trigger.  «Die Castagne Wälder sind am serbeln, aber das Holz ist zäh, wir nutzen es unter anderem als Wechselrahmen-Nährböden für diese Neopilze, die sowohl Luftfilter sind als auch essbar.» Wir probierten dankend lieber nicht.

Mir fiel das wuselige Leben in den Gassen auf, anders als in meinen medialen Erinnerungen. Alle Alter und Farben kreuzten sich geschäftig auf den Treppen den Hang hinauf und hinunter, mit verstohlenen Blicken auf uns Schwitzende. «Wollt ihr auf die Eseli?» Dabei lag der Ort noch im Schatten. Ich vermisste die Klimaanlage in meinem Bellinburgo Office. Eine uralte Frau schimpfte etwas Unverständliches aus ihrem Fenster und schloss es. War das nicht ein Deutschschweizer Akzent? Geschichte wiederholt sich, aber was war hier anders? «Die Touristen bleiben weg, es ist ihnen zu riskant. Die alten Hausbesitzer hingegen besetzen ihr Eigentum standhaft. Wir lassen sie in Frieden.»

Ein Kind mit einer Art Schrottroboter im Schlepptau lüpfte frech ihren Strohhut, den hier viele trugen: «Salve Exoti». «Eine Lebenskünstlerin», versuchte ich mich in lockerer Konversation. «Wir haben hier Zugezogene oder Geflüchtete von überall. Die aus dem globalen Süden wissen, wie Überleben geht und helfen uns aus der kippenden Westworld», erklärte Guido. «Alle bringen ihr Wissen und Können freiwillig ein, auch alte Ticinesi-Secondos wie ich. Sonst funktioniert es nicht. Es ist halt mehr Arbeit als bei euch, aber…»

white and red mushrooms and mushrooms

Innovative Experimentalzonen

Bevor zwischen Frau di Berna und mir noch ein befremdetes Team wurde, wies Guido auf die plätschernden Wasserleitungen. «Energie ist ja eigentlich fast gratis. Wassermanager ist auch bei uns einer der wichtigsten Jobs. Am Schluss könnt ihr in unserem natürlich geheizten Pool baden, wenn ihr wollt, unter der Zeder am Dorfplatz.» Sinnierend prallte ich beinahe mit meinem Kopf an einen grimmigen Tierkopf, der an einem Torbogen hing. Ein Bär? «Der grosse alte Wolf von der Alp. So schreckt er leider die diebischen Affen nicht ab. Und wir müssen dann mit ihnen tauschen, sonst schmeissen sie mit stachligen Kastanien.» «Affen?», äffte ich nach. Er hob die Augenbrauen. «Geht bitte nicht alleine in unser zaunloses Freiluftgehege. All die Tiere verbreiten die neuen Pflanzensamen samt Dünger, hehe. Die Boomer haben damit zu lange gewartet.» Verarschte der Typ uns?

Ich blickte ängstlich in den Wald. Am Dorfrand sah ich einen Esel-Trek bergwärts ziehen. Schmuggler? Gerüchteweise waren die Experimentalzonen bereits vernetzt in alle Richtungen. Ich wusste, dass die Überwachungsdrohnen nicht lange funkten, bevor sie von Raben erlegt wurden. Guido las unsere Gedanken. «Der Bund hat uns diese Bioabwehr abgekauft. Billig und effizient. Wir können integrative Ökonomie.» Meine Begleiterin versuchte, etwas Dreck von ihren Schuhspitzen abzustreifen. Dann rauschten Schatten über unsere Köpfe, «Grider, im Prinzip E-Bikes für den Weg hinauf. Aber hinab mit den Gleitflügeln ist bei den Jungen angesagt. Die arbeiten ja eine Weile bei euch unten, collega, Austausch ist geil, gell? Autark wollen wir gar nicht sein. Unsere Pilztech kann auch super Rohstoffe aus dem komplexen alten Abfall getrennt extrahieren. Diese dann aber bitte nicht essen.» Er zwinkerte, ich nickte. Stimmt, nachdem die Goldraffinerien in die USA ausgeflogen worden waren, hatte sich das Elektronikteile Kreislaufding in den früheren Bankpalazzi ausgebreitet wie ein… ach.

«Wie viel nehmen Sie denn damit eigentlich ein?» Roch die Beamtin Steuersubstrat? «Es reicht für die Aussenbeziehungen. Intern haben wir ja Social Coins auf unserer dezentralen Blockchain, das vereinfacht den Tausch». Guido nestelte schelmisch an seiner Kette aus – Plastikdeckeli. «Plastik ist ein Superstoff, wenn man es richtig macht. Und für den Wechselkurs sorgen unsere embodied AI. Ihr seid vorhin einer begegnet, mit der Ragazza. Die wachsen in der Gemeinschaft auf, als Lernprogramm. Später verwalten sie dann die komplexe Steuerung des Ökosystems der Zone. Das letzte Wort haben aber immer wir. Bei der Programmierung der Myzele kommen sie noch an den Anschlag, aber wir beraten uns mit den Biotech-Guys von der ETH. Schliesslich wollen wir etwas haben von der wissenschaftlichen Begleitung dieses grossen Experiments.» Schalk in den Augen.

Ich verstand nur Bahnhof und blieb stehen. War das hier eine suspekte Sekte, Reichsbürger oder linksanarchistische Pilzköpfe? Nein, und sicher keine Hillbillies. Die Skepsis vor dieser Andersartigkeit schien mir je länger, je unbegründeter. Meine Mundwinkel zogen sich wie von selbst nach oben. Innovation kam auch aus den Tälern. Echte soziokulturelle Evolution statt im virtuellen Büro seine Zeit abzuverdienen.

Unsere Zeit war abgelaufen. «Noch einen Grappa zum Verdauen?», bot der alte Fuchs an, der hierher in die Freiluft-Pension gewechselt hatte.

Auf dem Rückweg dachte ich: Wenn meine Tochter hier hin will, im «Jahr für alle» mit achtzehn, okay.

Bild von Urs Wolf

Urs Wolf

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