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Gibt es eine Menschheitsvision?

Wohin bewegen wir uns eigentlich als Menschheit? Und wer bestimmt, in welche Richtung wir gehen, was gut und erstrebenswert ist und welche Ziele wir als Erdenbürger:in auf unserem Heimatplaneten erreichen wollen? Gibt es eine Vision für die Menschheit?

Nach ChatGTP sind es grob gesagt ökonomische, technologische, sowie soziale, politische und ökologische Kräfte und Gegebenheiten, welche uns als Gesellschaft vorwärts treiben.

Die Visionen der Ismen

Die offensichtlichsten Kräfte sind wohl die der sozialen und politischen Bewegungen. All die “Ismen”, wie Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus, Faschismus, Nationalismus, Totalitarismus, Kommunismus, Anarchismus usw. zeugen von einer vielfältigen Vorstellung dessen, wie sich eine Gesellschaft organisieren sollte. Diese Vorstellungen spiegeln sich auch in den verschiedenen Regierungsformen der Länder wieder und zeigen ein sehr breites Spektrum an gesellschaftlicher Ausgestaltung und Mitwirkung: Von totaler Unterdrückung der Bevölkerung durch eine Elite in totalitären Regimes, bis zu vielfältigen Freiheiten und Möglichkeit der Mitbestimmung in Demokratien, ist alles zu finden.

Eine gemeinsame Vision kann hinter all diesen Ideologien nicht ausgemacht werden. Was sie aber klar zeigen; die Suche nach einer zukünftigen besseren Gesellschaftsordnung ist noch im vollen Gange und zwar über den ganzen Globus hinweg. Und vielleicht wird diese Suche auch niemals enden…

In einigen Regierungen wechseln sich beispielsweise regelmässig sogenannte “linke” und “rechte” politische Kräfte in ihrem Einfluss ab. Sie liegen miteinander im Streit, wie das gute Leben aussehen und erreicht werden soll. Für die Machterlangung versprechen sie Verbesserungen und enden meist nach ein paar Jahren Amtszeit bei den gleichen alten Problemen – oder etlichen neuen. Was dann wiederum zu neuen Kräfteverhältnissen, Neuwahlen oder im Extremfall auch mal zu Umstürzen oder Kriegen führt. Eine weltweite, subjektiv als zunehmend empfundene Unruhe und Unzufriedenheit scheint mir immer deutlicher spürbar.

Und es gibt kaum ein Land, welches nicht noch massig Potential hätte für gesellschaftliche Verbesserungen. Denn die Probleme dieser Welt sind trotz riesiger Unterschiede doch überall ähnlich. In unserem westlichen Wohlstand sind sie zwar weniger offensichtlich, aber auch hier gibt es immer mehr Arme und Super-Reiche, soziale Spannungen und Zukunftsängste.

Technologien als Treiber

Ein alt bekannter weltumfassender Treiber, welcher die Gesellschaftsvisionen der “Ismen” überlagert, sind neue Technologien. Sie prägen uns als Gesellschaft und die Zeitalter. Beispiel sind die Dampfmaschine, das Auto, die Elektrifizierung, die Kernkraft, der Computer und die damit einsetzende Digitalisierung, das Smartphone mit seinem festen Platz in unserem Alltag oder die Künstliche Intelligenz (KI), welche aktuell beginnt die Welt zu verändern. Vielfach helfen auch neu erschlossene Rohstoffe wie Kohle, Erdöl, Uran, Silizium und Lithium oder neue Materialien wie Plastik und Beton, Technologien zu befeuern und sich rund um die Welt zu verbreiten.

Wohin das führt, ist anfangs ziemlich offen. Und was wir damit erreichen wollen, eigentlich meist auch. So wusste beispielsweise niemand, welche Konsequenzen die Erfindung des Smartphones für jeden einzelnen von uns haben würde. Solche Innovationen sind ja in der Regel bloss der Hoffnung auf einen durchschlagenden wirtschaftlichen Erfolg des entwickelten Produkt geschuldet (siehe nächstes Kapitel). Der Gesellschaft wird die Innovation aber dann als Steigerung des „Wohlstandes“ verkauft. Aber was damit gemeint sein soll, ist ziemlich unklar.

Technologien sind eben keine Kraft, welche von einer gemeinsamen gesellschaftlichen Vision getragen, uns den Weg in eine so gewünschte Zukunft weisen. Es sind im besten Fall Teilaspekte einer Gesellschaftsvision und vielfach “Zufallsfunde” wissenschaftlicher Erkenntnissuche gepaart mit unternehmerischem Ehrgeiz.

Da Technologien meist abrupt erscheinen, sind wir selten bewusste, aktive Gestalter:innen einer von uns gewünschten Zukunft. Wir sind eher die ewig Gestrigen: Als Gesellschaft werden wir vom technischen Fortschritt mit all seinen Neuerungen immer wieder überrannt. Wir müssen anschliessend erst lernen damit umzugehen, die Vor- und Nachteile in den Griff bekommen und deren Auswirkungen abschätzen.

Was speziell ist: Es ist nicht entscheidend, welcher “Ismus” bei einer Regierung gerade an der Macht ist, Technologien haben auf alle Länder dieser Erde einen enormen formenden Einfluss.

Die Wirtschaft als Motor des Fortschritts

Heute ist der Hauptakteur des technologischen „Fortschritts“ die Wirtschaft. Von all dem, was die Wissenschaft und Tüftler:innen hervorbringen, bestimmen am Schluss Angebot und Nachfrage der Märkte oder präziser, die Profite oder Profitversprechen daraus, welche Neuerungen sich weltweit durchsetzen und etablieren. Ausnahmen bilden staatlich geförderte Technologien und Innovationen, welche auf dem Markt eine finanzielle Starthilfe erhalten.

Mit der Wirtschaft als Motor, stecken wir aber auch in einem marktgesteuerten „Try & Error“ Prozess: Durch ständiges Fortschreiten, Ausprobieren, Erfahrungen sammeln, Anpassen, Flicken, Verbessern, Aufgeben und Weitergehen sind wir zu Statist:innen des eigenen Fortschrittes geworden und wursteln uns mehr durch unsere Probleme, als dass wir stabile nachhaltige Lösungen generieren.

Ist der Kapitalismus eine Vision?

Und wenn wir schon bei der Wirtschaft angelangt sind, dann können wir gleich auch festhalten: Ob Diktatur oder Demokratie, geführt via Plan- oder Marktwirtschaft, liberal oder sozialistisch geprägt, in unserer heutigen Welt sind wir alle Teil des einen globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems.

So könnte auch postuliert werden, dass unsere aktuelle weltumspannende „Vision“, der gemeinsame gesellschaftliche Nenner, im Grunde genommen, der Kapitalismus ist. Er ist derart bestimmend und tonangebend für all unser Tun, dass er ein fester nicht mehr wegzudenkender Bestandteil unserer Lebens und damit auch unserer Wünsche und Visionen geworden ist. Er bildet die Basis, auf welcher alles andere aufbaut. Ohne Arbeit kein Geld, keine Nahrung, keine Kultur, kein Vergnügen, keine Visionen.

Da der Kapitalismus aber keine wirkliche Vision verkörpert, will er uns auch nicht in eine bestimmte gesellschaftliche Zukunft leiten. Er ist bloss ein wirtschaftliches Regelwerk aus Prinzipien und Mechanismen, basierend auf Geld. Um die notwendigen Profite zu erzielen, muss aus diesem Geld, durch Produktion und Handel, mehr Geld gemacht werden. Damit wird das gewünschte wirtschaftliche Wachstum möglich, welches den Kapitalismus am Leben hält.

Und dies kann mit unterschiedlichen Gesellschafts- und Staatsformen erreicht werden: Er kann in Autokratien genauso gedeihen, wie in demokratischen geführten Ländern. Nicht zuletzt ist Geld ja auch ein Machtinstrument. Und da wir alle davon abhängig sind, kommt dies einigen Menschentypen, wie auch einigen Regierungsformen sehr entgegen.

Was dabei aber auch offensichtlich und eigentlich sehr erstaunlich ist: Weder ein Diktator noch eine vom Volk gewählte Regierung steht über den Gesetzen von Geld und Wachstum! Schlussendlich müssen sich ihnen ALLE beugen.

Die Seele der Wirtschaft

In der kapitalistischen Gesellschaft gilt, dass der Mensch als Arbeitskraft, eine Ware und die Natur als Ressource, genau wie Fabriken und Maschinen, ein Produktionsmittel ist, mit welchen die Kapitalbesitzer:innen Profite erzielen müssen. In dieser Lehre gibt es weder für Waren, Produktionsmittel noch Kapitalbesitzer:innen Gos oder No-Gos, im Sinne einer gesellschaftlichen Bewertung dessen, was zu machen erlaubt oder verboten ist. Als „seelenloses“ System ist im Kapitalismus deshalb grundsätzlich auch alles möglich und erreichbar. Tiefste Armut neben schamlosem Reichtum oder vorbildliche Nachhaltigkeit neben skrupelloser Ausbeutung. Und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass im gleichen Mass, wie die mächtigen, einflussreichen Staaten von diesem System “profitieren” die dabei ausgebeuteten Länder auch verlieren: Sei es als Standort billiger Arbeitskräfte mit den einhergehenden sozialen Problemen oder als Quelle billig erschliessbarer Rohstoffe mit entsprechender Belastung der Umwelt. Beides in gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Dieses Problem ist natürlich bekannt. Staaten, Branchenverbände, Gewerkschaften, Umweltorganisationen, NGOs und viele mehr, versuchen deshalb den Kapitalismus immer wieder mit Abmachungen und Gesetzen zu bändigen oder in die Schranken zu weisen.

Und so kam es dann auch, dass die UNO 2015 die globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs), als Gemeinschaftswerk von UN-Mitgliedstaaten und umfangreicher Konsultationen bei Regierungen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Privatsektor und andere Interessengruppen, als „Agenda 2030“ verabschiedete. Die darin formulierten 17 Ziele können als globale gesellschaftliche Vision bezeichnet werden. Sie repräsentieren ein gemeinsames Verständnis und ein kollektives Engagement der internationalen Gemeinschaft für eine nachhaltige, gerechte und friedliche Welt. So der Tenor.

Die (Sustainable Development Goals, SDGs) sollen bis 2030 global und von allen UNO-Mitgliedstaaten erreicht werden. Das heisst, dass alle Staaten gleichermassen aufgefordert sind, die drängenden Herausforderungen der Welt gemeinsam zu lösen. Auch die Schweiz ist aufgefordert, die Ziele national umzusetzen. Auch sollen Anreize geschaffen werden, damit nichtstaatliche Akteure vermehrt einen aktiven Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten. (Quelle: EDA: 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung)

Haben wir mit der Agenda 2030 damit unsere Vision gefunden, welche uns als Menschheit die Richtung in eine bessere und nachhaltige Zukunft weist? Jein! Die Richtung stimmt, die Dringlichkeit auch, aber leider basieren auch die SDGs auf den wirtschaftlichen Zwängen von Profit, Konkurrenz und Wettbewerb.

So wird im SDG Nr. 8 auch ein dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges (Pro-Kopf) Wirtschaftswachstum gefordert. Es wird auf höhere wirtschaftliche Produktivität, technologische Modernisierung und Innovation gehofft und auf die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung. Bis 2030 soll es gar produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle geben. Der mit diesem SDG einhergehende wirtschaftliche Zwang zu endlosem Wachstum auf einem endlichen Planeten kann aber nicht gut ausgehen (siehe z.B. Interview mit Prof. Mathias Binswanger zum „ökonomische Zwang zum Mehr“).

Die Agenda 2030 ist aber auch ein Versuch, unserer Wirtschaft eine Seele einzuhauchen, ihr ein Gewissen zu verleihen, damit die gewünschten Ziele sozial verträglich, “menschengerecht” und “umweltneutral” erreicht werden. Immer mehr Unternehmen beziehen sich denn auch in ihren Visionen auf die SDGs, und zeigen darin auf, für welche gesellschaftlichen Ziele sie sich einsetzen. In der Schweiz unterstützt der Bund die Unternehmen (sowie Kantone und Gemeinden) dabei und bietet ihnen eine entsprechende Toolbox.

Aber was geschieht, wenn einem leblosen, toten Konstrukt, wie dem Kapitalismus, versucht wird, Leben einzuhauchen? Ein Zombie entsteht… Und so macht die Agenda 2030 genau jenes System wieder zum Treiber ihrer Vision, dessen Auswirkungen und Auswüchse sie eigentlich bekämpfen will!

Fazit

Auch wenn wir als Menschen global eng miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, haben wir doch für unser tägliches Tun & Streben auf dieser Erde keine gemeinsame Vision. Im „besten Falle“ steuern uns unsere Unternehmen mit ihren marktgetriebenen Visionen in irgendeine „fortschrittliche“ Technologie-Zukunft und im schlechtesten Fall weist uns ein Autokrat unseren Platz zu, gemäss seiner Vision der Welt.

Aber für ALLE gilt: Dies alles NUR innerhalb der Regeln und Zwänge des Kapitalismus. Das sind die Grenzen, die bestimmen was geht und was nicht.

Mit den SDGs hat die UNO etwas Grossartiges und sehr Wichtiges geschaffen, weil es unsere gesellschaftlichen und planetaren Wunden zeigt und den Finger in sie legt. Aber leider begeht diese Vision den fatalen Fehler eines Zirkelschlusses: Sie versucht die Probleme so zu lösen, indem sie die Hauptverursacher:innen wieder mit der Lösung betraut.

Und wie es schon Einstein ausdrückte: “Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind”.

Vielleicht wird gerade deswegen auch so viel über das gute Leben für alle diskutiert, werden endlos Bücher geschrieben, Workshop abgehalten und Visionen geschmiedet.

Als nächstes möchte ich mich deshalb damit beschäftigen, ob es auch (gelebte) gesellschaftliche Visionen jenseits unserer etablierten Vorstellungen gibt.

Was denkst du, liebe:r Leser:in, kann es überhaupt Visionen ausserhalb der Marktwirtschaft geben? Oder muss jede Vision marktverträglich sein?

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Werner Schuller

Eine Antwort

  1. JA klar, oder besser Visionen können nur ausserhalb der „Marktwirtschaft“ angesiedelt werden, wenn sie wirklich als Visionen bezeichnet werden sollen. Der „Vermarktungsmythos“ an sich ist ja das Problem, das uns von einer vernünftigeren Zusammenarbeitsform abhält. Dahinter steht unser bestehendes Geldsystem, das uns dazu zwingt, diese schädigende und nicht etwa wie behauptet effiziente, sondern sehr inneffiziente Wirtschaftsidee beizubehalten.Nur schon dass es „den Markt“ in den allermeisten Fällen gar nicht gibt, ist eine erste Falschheit, die wir durch laufendes Wiederholen, dass „der Markt“ es schon richte, auch nicht wahrer machen. Wann haben Sie das letzte Mal in der Migros an der Kasse gefeilscht? Markt ist einfach eine Ausrede für mächtige Akteure, die ihren Egoismus und ihre Rücksichtslosigkeit damit schönreden. Und noch zur vielgeschmähten „Planwirtschaft“: Innerhalb fast jedes Unternehmens und jedes Konzerns herrscht genau diese Planwirtschaft und ist sehr erfolgreich. Man kooperiert miteinander und versucht die Ressourcen sinnvoll (und manchmal sogar gerecht) zu verteilen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.
    Das gemeinsame Ziel der (Welt-)Wirtschaft muss sein, allen Menschen eine Lebensgrundlage zu verschaffen. Das kann nur durch intelligentes, koordiniertes Vorgehen erreicht werden, nicht durch den wilden Kampf gegeneinander, um möglichst viel an sich zu raffen.
    Also nochmals: Visionen müssen die „Marktidee“ weit übersteigen und diese an ihren (bescheidenen) Platz stellen, wo sie in wenigen bestimmten Situationen manchmal sinnvoll sein kann.

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