Zwischen Wunschtraum und Reformismus
Utopien haben einen zweifelhaften Ruf. Zu gross ist die Nähe zum Wunschtraum, zu schnell gelten sie als weltfremd. Wer in politischen Gesprächen «utopisch» genannt wird, darf das selten als Kompliment verstehen. Eine gängige Alternative lautet: pragmatischer Reformismus. Schrittweise Verbesserungen, die den Rahmen des Bestehenden nicht sprengen.
Zwischen diesen beiden Polen liegt ein Raum, den der amerikanische Soziologe Erik Olin Wright als «Realutopien» bezeichnet hat – ein Konzept, das die gewohnte Trennlinie zwischen Vision und Realität bewusst unscharf macht.
Gelebte Beweise statt grosser Entwürfe
Das Prinzip ist ebenso unspektakulär wie subversiv: Statt die perfekte Gesellschaft als grossen Entwurf an die Wand zu malen, sucht man nach konkreten, funktionierenden Alternativen im Hier und Jetzt. Genossenschaften, partizipatorische Haushalte, solidarische Landwirtschaft, Open-Source-Communities. Projekte, die nicht auf eine Revolution warten, sondern in den Rissen der bestehenden Ordnung wachsen. Sie sind, wie Wright formuliert, «gelebte Beweise dafür, dass es auch anders geht».
Man kann das für klein denken halten. Aber genau dieser Massstab macht den Unterschied. Eine reale Utopie ist nicht die totale Alternative, sondern ein Artefakt, das sich anfassen, bewohnen, erproben lässt. Wer erlebt, wie eine Gemeinschaft offen und direkt über ihre gemeinsamen Ressourcen entscheidet, versteht den Begriff demokratischer Mitbestimmung neu. Und wer in einem genossenschaftlich organisierten Wohnprojekt lebt, erlebt Eigentum nicht als privates Bollwerk, sondern als gemeinschaftlich verwaltete Ressource.
Wie solche Ideen im Alltag Gestalt annehmen, zeigt sich an Orten, die kaum unterschiedlicher sein könnten – und dennoch eine ähnliche Logik teilen. Manche dieser Realutopien sind so klein, dass sie leicht übersehen werden. Gerade deshalb lohnen sie einen genaueren Blick.

Eine Insel als Labor
Auf den ersten Blick ist Eigg nur eine kleine, windumtoste Hebrideninsel vor der Westküste Schottlands mit 110 Bewohner:innen. Doch seit die Gemeinde 1997 das Land von einem privaten Besitzer zurückkaufte, hat sich Eigg in ein utopisches Labor verwandelt. Stromversorgung? 100 Prozent erneuerbar, über Solar, Wind und Wasser. Eigentum? Gemeinnützig verwaltet von einer Inselstiftung. Entscheidungen? In monatlichen Versammlungen diskutiert, als wäre es die normalste Sache der Welt.
Es gibt Rückschläge, Streit, bürokratische Reibereien. Aber es gibt auch eine gelebte Praxis, in der Kooperation nicht moralischer Imperativ, sondern Überlebensbedingung ist. Eine reale Utopie – weit entfernt von jeder Perfektion, und gerade darin überzeugend.
Hinweis der Redaktion: Die Arte-Doku ist derzeit leider nicht abrufbar.

Demokratie im Stadtviertel
Fast 10.000 Kilometer entfernt, im Süden Brasiliens, hat Porto Alegre seit den späten 1980er-Jahren ein Verfahren etabliert, das so schlicht wie radikal ist: Die Stadt überlässt ihren Bürger:innen einen Teil des Haushaltsbudgets zur direkten Verteilung. In Versammlungen, Stadtteil für Stadtteil, werden Prioritäten festgelegt: Strassensanierung oder Wasserversorgung, Spielplatz oder Gesundheitszentrum.
Das Modell – eines der ersten gross angelegten partizipatorischen Haushaltsverfahren weltweit – hat sichtbare Spuren hinterlassen: eine gerechtere Verteilung der Infrastruktur, eine grössere Transparenz über öffentliche Ausgaben. Aber wichtiger noch: Es hat den Bürger:innen das Gefühl vermittelt, dass politische Gestaltung nicht nur alle vier Jahre an der Urne stattfindet. Politik ist hier nicht etwas, das «da oben» passiert, sondern «hier unten».

Die dritte Macht
Wrights entscheidender Gedanke: Solche Beispiele sind nicht bloss nette Ausnahmen, sie verschieben den Möglichkeitsraum. Sie stärken, was er die «soziale Macht» nennt – jene Kraft, die nicht aus staatlicher Autorität oder wirtschaftlicher Kontrolle erwächst, sondern aus freiwilliger Kooperation. Eine dritte Macht, die sich zwischen Markt und Staat etabliert.
Pluralität statt Perfektion
Reale Utopien haben keinen Masterplan. Sie lehnen das Versprechen einer widerspruchsfreien Endlösung ab. Stattdessen setzen sie auf Pluralität und Experiment – und akzeptieren, dass Fortschritt ein widersprüchlicher, oft frustrierender Prozess ist. Wer sich darauf einlässt, weiss: Rückschläge sind unvermeidlich, aber sie gehören dazu.
Was wir daraus machen wollen
Auch bei Monda Futura arbeiten wir mit dieser Haltung. Im ersten Schritt wollen wir herausfinden, was Menschen in der Schweiz tatsächlich verbindet – jenseits von Parteigrenzen, ideologischen Reflexen und kurzfristigen Trends. Inmitten vielfältiger Krisen ist es wichtiger denn je, einen gemeinsamen Leitstern für positive Zukunftsaussichten zu entwickeln.
Monda Futura erarbeitet dafür gemeinsam mit der Bevölkerung Ideen für eine lebenswerte Zukunft und stellt diese zur öffentlichen Bewertung. Anschliessend setzen wir zusammen mit der Zivilgesellschaft und mit Unternehmen, Organisationen und Gemeinden konkrete Projekte um, die Schritt für Schritt in Richtung der gewünschten gesellschaftlichen Visionen führen.
Vielleicht ist das der eigentliche Kern einer produktiven Utopie: Sie bleibt beweglich, offen für Anpassungen – und nah genug an der Gegenwart, um den ersten Schritt sofort machen zu können. Der Rest ist Geduld. Und ein beharrliches Arbeiten daran, dass es zwar keine perfekte Zukunft gibt – aber keinen Grund, es nicht anders zu machen.
👉 Genau darüber sprechen wir in unseren kommenden Monda-Futura-Events. Hier geht’s zu allen Terminen.
