Eine signifikante absolute Reduktion der Treibhausgasemissionen ist nur möglich, wenn eine massive Transformation der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik stattfindet. Doch wie könnte eine solche Zukunft konkret aussehen? Wir stellen vier Szenarien für dekarbonisierte Städte vor.
Ein australisches Forschungsprogramm hat untersucht, wie australische Städte bis 2040 mindestens 80% ihrer Treibhausgasemissionen reduzieren können. Dabei wurden gemeinsam mit verschiedenen lokalen Stakeholdern vier Szenarien entwickelt, die konkrete Ansätze für resiliente und klimafreundliche Städte beinhalten. Die vier Szenarien sind voller Ideen, welche wir auch in der Schweiz diskutieren können, um unsere Vision für eine tragfähige und klimafreundliche Vision für die Schweiz zu entwickeln. Denn erst wenn wir konkrete Ideen vor Augen haben, können wir vertiefte Diskussionen über mögliche Zukünfte führen – daher haben wir die australischen Forschungsergebnisse hier zusammengefasst.
Wir haben Optionen
Die Erkundung der Stadt der Zukunft erfordert Mut und Vorstellungskraft. Das Schöne dabei ist, dass mehrere Optionen sichtbar werden, wie die Klimaziele erreicht werden können. Die hier vorgestellten Szenarien sollen inspirieren, Gedanken zu technologischen und sozialen Innovationen anregen und einen offenen Dialog über gewünschte Veränderungen ermöglichen.
Clean-Tech Corporate Living – Leben durch Innovation

Das Szenario «Clean-Tech Corporate Living» (deutsch: Leben mit Clean-Tech Konzernen) beschreibt eine marktwirtschaftlich gesteuerte urbane Vision, die auf technologische Innovationen und ökologische Modernisierung setzt. Die Emissionen werden vor allem in der Produktion reduziert und nicht durch Konsumänderung. Effizienzsteigerungen in der Produkt- und Prozessgestaltung sowie die Minimierung von Abfällen senken den CO₂-Ausstoss, was den hohen Konsum weniger belastend macht. Grosse Unternehmen investieren in Dekarbonisierung, erneuerbare Energien und Kreislaufwirtschaft, wodurch ressourcenschonende Produktionsweisen und neue Geschäftsmodelle entstehen. Diese Grossunternehmen treiben mit Smart Grids, intelligenten Gebäuden und elektrischer Individualmobilität den Wandel voran, während steigende Kosten für Ressourcen und die Nachfrage nach grünen Produkten den Markt prägen. Die Stadt schafft Rahmenbedingungen und hält sich sonst mit Regulierungen zurück. Bürger:innen sind in erster Linie Konsument:innen. Allerdings: In diesem Wachstumskontext können sich soziale Ungleichheiten verstärken, da diese Transformation stark profit- und marktorientiert bleibt.
Planned Regulated Living – Leben mit regulierter Planung

Das Szenario «Planned Regulated Living» (deutsch: Leben mit regulierter Planung) beschreibt eine durch demokratischen Konsens getragene, stark regulierte Stadtentwicklung. Diese nutzt öffentliche Investitionen in grüne Infrastruktur und strikte Umweltgesetze, um Emissionen deutlich zu reduzieren. Die Stadt reguliert und plant den Wandel und setzt klare Leitplanken für die Wirtschaft. Das Parlament sorgt dafür, dass der Privatsektor eine Balance zwischen Gewinn und den Bedürfnissen der Gesellschaft findet. Staatliche Institutionen verwalten zentrale Versorgungsbereiche wie Energie, Wasser und Verkehr, wodurch eine ressourcenschonende und emissionsarme Grundversorgung sichergestellt wird. Regulierungen fördern den Wandel hin zu 100% erneuerbarer Energie, weitgehender Elektrifizierung und einem starken Rückgang des Individualverkehrs zugunsten von öffentlichem Verkehr und aktiver Mobilität. Städte werden kompakter geplant und Bestandsgebäude umfassend saniert. Die gesellschaftliche Akzeptanz für strikte Umweltregeln ist hoch, da die Bevölkerung soziale Gerechtigkeit und die Bedürfnisse der Allgemeinheit priorisiert. Allerdings wird dadurch die Auswahl an möglichen Konsumgütern zwar etwas eingeschränkt, wobei der durchschnittliche Wohlstand nachhaltig steigen dürfte.
Networked Entrepreneurial Living – Leben in Netzwerken

Das Szenario «Networked Entrepreneurial Living» (deutsch: Leben in unternehmerischen Netzwerken) beschreibt eine stark dezentralisierte und selbstorganisierte Stadtentwicklung, in der grosse Unternehmen und Regierungen an Einfluss verlieren. Stattdessen treiben agile Mikrounternehmen, digitale Netzwerke sowie kollaborative Plattformen für Freiberufliche den wirtschaftlichen Wandel voran. Durch Peer-to-Peer-Modelle, Open Source-Innovationen und geteilte Ressourcen entstehen nachhaltige Lösungen, die die effiziente Nutzung von Energie und Materialien maximieren. Lokale Produktion, Sharing-Systeme für Transport und Räume sowie ein starker Reparatursektor tragen zur Emissionsreduktion bei. Bürger:innen sind aktiv an der Gestaltung von Stadt und Versorgung beteiligt und nutzen digitale Werkzeuge zur Steuerung von Ressourcen. Dadurch sind sie nicht nur am Konsum, sondern auch an der Produktion beteiligt – sie sind “Prosument:innen”. Innovation geschieht dank öffentlich zugänglichen Werkstätten oder Maker Spaces mit 3D-Druckern, Reparaturläden und weiterer Infrastruktur, die Experimentieren und Lernen fördern. Diese radikal vernetzte und flexible Wirtschaftsstruktur begünstigt kreative und diversifizierte Lösungen. Allerdings birgt sie durch starken Individualismus und unklarer sozialer Absicherung auch Risiken.
Community Balanced Living – Leben in Gemeinschaften

Das Szenario „Community Balanced Living“ (deutsch: Leben in ausgeglichenen Gemeinschaften) beschreibt eine Stadt mit niedrigem Konsum, die soziale und ökologische Werte in den Mittelpunkt stellt. Die Emissionsreduktion erfolgt durch die absolute Verringerung des Ressourcenverbrauchs sowie durch eine lokal organisierte Sharing-Ökonomie. Kooperativen und gemeinwohlorientierte Unternehmen ersetzen profitorientierte Strukturen, während Recycling, Reparatur und Eigenproduktion zentrale Rollen spielen. Bürger:innen engagieren sich aktiv für geteilte Güter wie Energie, Wasser und Bildung, wodurch nachhaltige Lebensweisen gefördert werden. Wohlstand wird neu definiert – er basiert nicht auf materiellem Besitz, sondern auf gemeinschaftlicher Teilhabe, sozialem Zusammenhalt und einer dezentralisierten Governance. Durch starke Nachbarschaftsnetzwerke, alternative Wirtschaftsformen und direkte Mitgestaltung wird eine resiliente und sozial gerechte Stadt geschaffen. Allerdings: Das Szenario setzt voraus, dass sich die Stadt vom Einfluss grosser Unternehmen und der Regierung abwenden kann und die Bürger:innen bereit sind, auf persönliche Akkumulation von materiellen Wohlstand zu verzichten. Zudem sind die neuen Modelle der Selbstverwaltung auf eine gut informierte und aktive Partizipation angewiesen, um erfolgreich zu sein.
Vier Szenarien – viele Fragen
Die vier Szenarien machen deutlich, dass es vielfältige Ansätze gibt, um die Treibhausgase einer Stadt stark zu reduzieren. In einer gesellschaftlichen Klimadebatte scheint es viel zielführender, über das «Wie», statt über das «Ob» zu sprechen. In der Abbildung sehen wir eine Charakterisierung der vier Szenarien, welche uns zu konkreten Fragen führt: Möchten wir zentralisierte, staatliche oder wirtschaftliche Massnahmen oder auch ein verändertes gesellschaftliches Engagement? Möchten wir eine städtische Gesellschaft, die eher profitorientiert ist oder eine, die sich nach dem Gemeinschaftswohl richtet? Soll das System eher Gleichheit fördern oder Leistung belohnen? Sollen die strategischen Entscheide zur Versorgung der Stadt dezentral durch die Bevölkerung selbst getroffen werden (bottom-up)? Oder durch zentralisierte Entscheidungsgewalt der Regierung oder sogar durch grosse Unternehmen (top-down)? Wer soll die Verantwortung für die Planung und Umsetzung des klimafreundlichen Lebens übernehmen: Die Bürger:innen selbst oder eine übergeordnete Autorität

Ein Werkzeug zur Orientierung
Diese vier Szenarien können als Gedankenstütze dienen, um alternative Visionen zum Status Quo zu erträumen. Dank den konkreten Ideen können wir ihre Implikationen besser durchdenken, sie herausfordern und eine grössere Palette an Optionen für die Gestaltung der Zukunft erkennen. Die Ideen in den Szenarien können auch kombiniert werden. Trotz vieler positiver Aspekte bleibt offen, wie sich eine Stadt in ein Szenario begibt und ob das Szenario ausreicht, um die gewünschte Reduktion von 80% der Treibhausgase bis 2040 zu erreichen. Daher hat das australische Forschungsprogramm zwei Aktionspfade entwickelt, die verschiedene Ideen der Szenarien aufnimmt und verstärkt. Die zwei Aktionspfade werden im nächsten Artikel vorgestellt.
Was wäre dein favorisiertes Szenario? Welches findest du am spannendsten?