people riding escalator

Willkommen im Dauerlauf

Ich steige aus dem Zug und sehe eine Frau mit aufgeklapptem Laptop und Headset die Rolltreppe hinaufsprinten. Noch bevor sie in der Menge verschwindet, höre ich sie etwas von einem «wichtigen Abgabetermin» rufen. Ich bleibe kurz stehen und atme durch. Willkommen in der beschleunigten Gegenwart.

Die Logik der Beschleunigung

Die Logik unserer Gesellschaft scheint alternativlos: Um ihren Wohlstand zu sichern, muss sie wachsen, schneller werden, unentwegt Neues hervorbringen. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von «dynamischer Stabilisierung» – einem Zustand, in dem Stillstand nur durch permanente Beschleunigung verhindert wird. Wir schauen Filme und checken Instagram gleichzeitig, hören Podcasts auf Tempo 1.5x und sitzen mit Laptop in virtuellen Meetings, während wir die Rolltreppe hinaufrennen.

Die Beschleunigung ist zur Norm geworden. Wer sich ihr nicht beugt, riskiert, zurückzufallen – beruflich, privat oder irgendwo dazwischen. Doch während wir uns immer schneller bewegen, stellt sich die Frage, ob wir uns tatsächlich fortbewegen. Oder ob wir einfach nur in einer Endlosschleife rotieren.

Doch wo bleibt der Fortschritt, den wir überall beschwören? Neue Apps, mehr Meetings und Elektroautos – bringt uns das tatsächlich näher an ein gutes Leben? Rosa würde sagen: Vieles davon ist oberflächliche Beschleunigung ohne echten Wandel. Wirkliche Transformation braucht vor allem eines: Zeit. Zeit zum Denken, zum Zuhören.

Die Chance der Unvorhersehbarkeit

Rosas Antwort auf den Beschleunigungszwang ist Resonanz: echte Begegnungen, die uns berühren – mit Menschen, Ideen oder der Welt um uns herum. Ich frage mich, wann ich zuletzt jemandem ohne Zeitdruck zugehört habe. Oder wann ich mit einer Freundin spazieren ging, ohne bereits gedanklich beim nächsten Termin zu sein. Vielleicht liegt genau hier der Schlüssel: kleine Pausen, Momente der Resonanz, die uns wieder wahrnehmen lassen, was um uns herum passiert. Doch wie sollen wir sie finden, wenn alles gleichzeitig zu passieren scheint?

Rosa betont, dass wir die Welt nicht vollständig kontrollieren können – und dass gerade darin eine Chance liegt. Vielleicht müssen wir lernen, die Unvorhersehbarkeit als Möglichkeit zu sehen, statt als Bedrohung. Freundschaft, Zufriedenheit oder tiefere Einsichten lassen sich nicht per Mausklick bestellen. Sie entziehen sich dem Sog der Beschleunigung und brauchen Zeit.  Und die Bereitschaft, sich auf das Unvorhersehbare einzulassen, birgt die Chance auf echten Wandel.

Die Macht der kleinen Momente

Der Zwang zur Beschleunigung wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Doch schon die Idee, kleine Gegengewichte setzen zu können, macht Mut. Im Kino das Handy in der Tasche lassen. Ein Buch lesen, ohne an die Liste der ungelesenen Bücher zu denken. Das mag trivial klingen. Aber vielleicht sind es genau solche kleinen Aktionen, die uns zeigen: Wir sind nicht völlig machtlos in diesem Dauerlauf. Es gibt sie noch, die Wahl, wie wir mit dem Tempo umgehen. Und das ist, bei aller Beschleunigung, tatsächlich eine gute Nachricht.

Zeit als Gegenentwurf

Auch bei Monda Futura nehmen wir uns bewusst Zeit. Zeit, um den Menschen zuzuhören. Zeit, um innezuhalten und zu überlegen, welche Zukunft wir uns wirklich wünschen. Liegt der gesellschaftliche Konsens tatsächlich darin, dass sich alles immer schneller drehen muss? Oder haben wir nicht alle längst Sehnsucht, das Tempo zu drosseln? Vielleicht ist die wahre Herausforderung nicht die Beschleunigung an sich, sondern die Unfähigkeit, ihr zu entkommen. Denn womöglich liegt der Konsens längst im Wunsch, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: auf Beziehungen, auf Begegnungen, auf echte Gespräche.

Statt uns der Illusion eines grenzenlosen Wachstums hinzugeben, könnten wir beginnen, die Qualität unserer Begegnungen zum Massstab des Fortschritts zu machen. Nicht, weil das einfacher wäre – sondern weil es vielleicht die einzige Art ist, die Zukunft zu gestalten, ohne uns in der beschleunigten Gegenwart zu verlieren.

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Raphaela Haenggi

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