Der Ruf des Menschen ist schlecht.
Wer hat ihn nicht schon zu hören bekommen oder ihn auch selber, als Abschluss eines Diskurses zu Moral oder unserer Motivation, zum besten gegeben, diesen Satz: „Der Mensch ist halt (einfach) so“. Und damit ist nichts Gutes gemeint, sondern es soll zum Ausdruck gebracht werden: Der Mensch ist von Egoismus und Gier durchtränkt und gesteuert!
Evas Apfel
Wie war das nochmal bei Adam und Eva im Paradies und dem Biss in die Frucht des Baums der Erkenntnis? Ja genau, gemäss Bibel (christlich ausgelegt) war’s damit besiegelt: Der Sündenfall, die Ursünde kam in die Welt. Durch die Verletzung von Gottes Geboten mussten Adam und Eva den Garten Eden verlassen und wir Menschen wurden auf die Erde verbannt. Mit dieser, von Geburt an angeborenen Neigung zur Sünde, machten wir uns dann – vermeintlich – die Erde untertan. Seither herrscht Lug und Trug, Mord und Totschlag, Ehebruch, Neid, Eifersucht, Hass, Feindseligkeit, Stolz und Hochmut in der Welt…
Ist unser Ruf also Folge eines unausweichlichen Planes? Sind der Kolonialismus, die Ausbeutung von Mensch und Erde, die Klimakrise, die weit offene Schere zwischen Arm und Reich und die hungernden Menschen nur eine logische Folge dieses gottgegebenen sündhaften Weges? Hatten wir also gar keine andere Wahl?
Adam und Eva sicher nicht! Da allwissend, wusste Gott natürlich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Adam und Eva von seinem Baum eine Frucht kosten würden. Also ein fieser Plan? Ausgedacht von Gott selbst?
Fall aus der Einheit in die Verschiedenheit?
Wie alles, was in den heiligen Schriften steht, ist dies eine Geschichte, ein Symbol. Nicht wortwörtlich zu nehmen und mit ganz viel spiritueller Weisheit zwischen den Zeilen. So entsteht Raum für ganz verschiedene Auslegungen und Meinungen. Vielleicht zeigt die biblische Erzählung ja, was mit der Seele geschieht, wenn sie Mensch wird, hier auf der Erde. Sie fällt aus der kosmischen Einheit, in welcher alles einen ganzheitlichen Sinn ergibt, wo Gut und Böse einfach zwei Seiten der gleichen Medaille sind, in eine duale Welt, wo diese Einheit zerbricht und deshalb zur Herausforderung wird.
Der Sündenfall wäre so der Fall des Menschen aus der ursprünglichen Gesamtheit, in eine Welt unendlicher Verschiedenheiten. Mit diesen hat er sich nun unweigerlich auseinanderzusetzen. Er muss deshalb Stellung beziehen, Entscheidungen fällen, sich einordnen, sich verteidigen, Fehler machen, Freude bereiten, Schicksalsschläge einstecken, Freunde finden, Feinde erkennen, sich erkennen und andere verstehen. Oder einfach gesagt: er muss leben. Und um seinen Weg zu meistern, wurden dem Menschen eine unendliche Zahl verschiedenster Verhaltensweisen, Gemütsregungen und Handlungsweisen in die Wiege gelegt.
Die Ursünde beschreibt nicht menschliches Fehlverhalten, sondern symbolisiert den unausweichlichen Lernweg in einer komplexen Welt, den jede Seele gehen muss, die sich für ein (erneutes) irdisches Leben entscheidet. Zur Erfüllung muss jeder seinen eigenen, mal einfachen, mal mühseligen Weg gehen und finden. Das Ziel ist früher oder später wieder – um ein Leben bereichert – in die kosmische Einheit zurückzukehren.
Mit der Sicht des Südenfalls als Geschichte vom unausweichlichen Fall der Seele ins Labyrinth der Verstrickungen des Leben, wollen wir Adam und Eva und damit die Vorverurteilung des irdischen Menschen auch schon wieder hinter uns lassen und uns dem widmen, was uns wirklich ausmacht.
Der Mensch, das vielschichtige Wesen
Wir kommen alle mit einer Mitgift in die Welt. Sei diese geprägt durch unsere DNA, unser epigenetisches Erbe (siehe Max-Planck-Gesellschaft: Epigenetik zwischen den Generationen) oder einfach durch die Gemeinschaft und Gesellschaft, in welche wir hineingeboren werden.
Jeder Mensch kommt auch in gleicher Weise nackt auf die Erde, als gleichartiges Wesen, als Spezies Homo sapiens. Als dieses besitzen wir auch alle das, was wir glauben, was uns zum Menschen macht: Vernunft und Denkfähigkeit, Bewusstsein und Selbstreflexion, Emotionen und Empathie, Sprache und Kommunikation, Kultur und Kreativität. Und, natürlich auch ausgelebt in allen Spielformen zwischen Gut und Böse, Macht und Ohnmacht, Haben und Sein.
Und jetzt sind wir mitten im Thema: Was machen wir mit diesen, unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten? Mit unserer reichhaltigen Mitgift? Wie setzen wir sie ein? Was ist wichtig, was nicht? Wie definieren wir überhaupt was wichtig ist? Welcher Richtschnur wollen wir folgen und wohin? Wie gehen wir mit unseren Mitmenschen um, mit unseren Mit-Erdlingen?
Als Menschheit haben wir die Fähigkeiten zu lernen, aus der Vergangenheit (unserer Vorfahren), aus eigenen Fehlern, aus dem, was gelang, was Leben und Freude zum Sprühen bringt und was den Tod. Und wir sind kreativ, neugierig und enorm anpassungsfähig, dies auch weil wir gelernt haben uns dort zu behaupten, wo wir – von Natur aus – eigentlich gar nicht leben könnten, sei es an den Eispolen, in der Wüste, der Tiefsee oder im Weltall.
Mensch, du kannst so viel!
Grundsätzlich könnte deshalb jede Gesellschaft, also eine Anzahl Menschen, welche enger in gegenseitiger Abhängigkeit miteinander leben möchten, selbst bestimmen, was sie will bzw. nicht mehr will, wie sie es will und wohin es gehen soll. Das war wohl so, zu Beginn der entstehenden Kulturen. Die Gemeinschaften gaben sich Werte und Regeln für das gemeinsame Tun. Mit Pflichten konnte das Notwendige erreicht und gleichzeitig der Raum für Freiheiten geschaffen werden, damit das Zusammenleben vereinfacht, gefestigt und für alle einen Mehrwert bot. Und es setzte Sanktionen, wenn sich Mensch nicht an die gemeinsamen Abmachungen hielt.
Das steckt irgendwie in unserer DNA. Wir finden es in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Die dabei entstandenen Gesellschaften unterschieden sich dabei sehr stark. Manche waren geprägt durch Machtstrukturen und Gewalt, andere wiederum durch Gleichheit und Friedlichkeit. Die ganze Bandbreite der Kreativität, welche bei der Bildung von Gemeinschaften während unserer Menschheitsgeschichte ausgelebt wurde, zeigen David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch “Anfänge”. Sie schreiben: “Wir Menschen sind Projekte kollektiver Selbsterschaffung. Wie wäre es, wenn wir auch der Menschheitsgeschichte mit dieser Prämisse begegnen würden? Wie wäre es, wenn wir die Menschen ab dem Beginn ihrer Geschichte als fantasievolle, intelligente, spielerische Wesen behandeln würden, die es verdienen, als solche verstanden zu werden?”. Ihre Botschaft: Es gibt in der Geschichte der Menschheit keine zwangsläufige Verzahnung von Fortschritt, Herrschaft und Hierarchie. Die Menschen haben stets mit unterschiedlichen Formen sozialer Selbstorganisation experimentiert (siehe WOZ: Paläste für alle!).
Endstation: Gesellschaftliche Monokultur?
Doch wie kamen WIR dann dahin, wo wir heute stehen? An den Rand des Klima-Abgrunds? Zu einer mit Plastik überzogenen Welt mit Spuren im Polareis, auf Berggipfeln, in Plankton, unserem Blut, der Muttermilch und im Gehirn? Kein Wunder schlägt eine Forschergruppe deshalb vor, dass Kunststoffpartikel als Kennzeichen für die Schichten des Anthropozäns herangezogen werden sollen. Also des vor Kurzem ausgerufenen neuen Erdzeitalters, das entscheidend durch den Menschen geprägt ist (siehe Informationsdienst Wissenschaft: Mikroplastik kennzeichnet Schichten des Anthropozäns)?
Und wie kam es zu steigender Armut, immer mehr Working-Poors, zu unermesslichem Reichtum und gleichzeitiger Entfremdung und Polarisierung zwischen uns Menschen? Ist das einfach so? Muss das so sein? Stecken wir da endgültig fest? Global?
Wer bestimmt die Richtung? Wer, welche Innovationen uns verführen, vermeintlich weiterhelfen, um anschliessend als Konsequenz wieder neue Innovationen zu verlangen? Ist es die Gier des Menschen? Sein unbändiger Forschergeist? Sein Streben nach Macht, Einfluss und die Verlockung nach Mehr und immer Mehr? Steckt das vielleicht sogar fest in uns als Spezies, etwas das unser Verhalten steuert, quasi per DNA bestimmt?
Mal Wolf, mal Schaf
Was unbestrittenen ist: Unser Handeln ist extrem situativ. Je nachdem in welchen „Settings“, also vor welcher Kulisse, Szenerie, in welchem Milieu, welcher Umgebung, Situation und unter welchen Bedingungen oder in welchem Arrangement wir uns befinden, handeln wir komplett anders. Im Zusammenleben der Familie zu Hause, herausgefordert im Unternehmen, kämpfend auf dem Schlachtfeld, eingesperrt im Gefängnis, im Wettbewerb des Marktes, im sportlichen Wettkampf um Ruhm und Ehre oder als Altenbetreuerin im Seniorenheim.
Die Rahmenbedingungen bestimmen die Richtung unseres Denkens und Handelns. Da können je nach Kontext aus Schafen auch mal Wölfe werden und aus Wölfen Schafe. Es kommt also darauf an, ob und welche Zwänge um uns aufgebaut werden, was von uns verlangt wird und wie wir damit umgehen.
Arbeit bestimmt das Leben
Unsere heutige Gesellschaft besteht aus weit mehr Zwängen, als wir uns das manchmal eingestehen wollen. Mehr als 8 Stunden pro Tag, 5 Tage die Woche, bei 4-5 Wochen Ferien pro Jahr zweigen die meisten Menschen Zeit, in Form von „Arbeit“, während rund 50 Jahren, von ihrer Lebenszeit ab. Sie ist denn auch die unsichtbare Währung unserer heutigen Gesellschaft. Ob gut oder schlecht bezahlt, geliebt oder gehasst, langweilig oder überfordernd, die Arbeit bestimmt weitgehend unser Leben.
Wir schaffen damit Wohlstand durch Wachstum, Gesundheit und Wohlergehen durch Forschung und Entwicklung und erhalten dadurch allerlei Annehmlichkeiten wie 3D-Brillen, Viagra-Pillen und Weltraumflüge für jedermann (oder zumindest für jene, die es sich leisten können). Der Flug auf die Malediven oder der Swimmingpool im Garten sind dann die verdiente Belohnung oder “Entschädigung” für unser Abrackern bei der Arbeit.
Und dem Paradies keinen Schritt näher
Doch weshalb stehen wir dann am Abgrund? Warum spielt das Klima verrückt und können wir nicht einmal die Grundbedürfnisse nach Nahrung und Gesundheit von hunderten Millionen Menschen auf der Welt befriedigen? Bei all diesem Wohlstand und so vielen Annehmlichkeiten? Und so unendlich vieler, von der gesamten Menschheit, geleisteter Arbeit?
Die Antwort: Es gibt einfach zu viele Kehrseiten dieser Arbeit/Belohnungs-Medaille. Das gute Leben des einen, ist das widrige und eingeschränkte Leben des anderen. Das hippe T-Shirt-Schnäppchen im Ausverkauf ist die Arbeit einer Näherin unter menschenunwürdigen, aber „billigen“ Bedingungen im fernen Asien. Der „unberührten“ Inselwelt der Malediven steht die gigantische Müllinsel gleich gegenüber (siehe SPIEGEL: Die Müllinsel).
Schuld sind die Manager, oder?
Doch was haben diese negativen Auswirkungen mit uns zu tun? Sind es nicht die Folgen einzelner unverbesserlicher, asozialer Menschen? Tragen nicht die ungebremste Manager-Gier dieser börsenkotierten Konzerne, die schamlos verdienenden Bankenbosse und die korrupten Politiker:innen die Verantwortung und damit die Schuld an diesen weltweiten Missständen?
Natürlich. Klar. Aber wenn wir näher hinsehen, dann stellen wir auch fest: Wir tun es eigentlich alle, auf die eine oder andere Art. Was die Konzerne und Staaten im Grossen anstellen – mit verheerenden Folgen – tun wir im Kleinen, mit mehrheitlich akzeptierten Folgen: Wir booten unsere KMU-Konkurrenz aus, nehmen ihnen Marktanteile weg durch die Verlagerung der Produktion ins billige Ausland. Wir drücken die Preise, damit WIR bei der Projektausschreibung gewinnen und nicht die Anderen. Wir erfinden den ToGo-Genuss und kümmern uns vielleicht irgendwann später (wenn es uns wieder zum Vorteil wird), um den dabei produzierten Abfall. Wir tun dies und vieles mehr im Kampf um Geld und Konsum.
Und selbstverständlich freuen wir uns auch über unseren neuen Job, den wir erhalten haben – weil wir beim “Pitchen” die bessere Performance boten, als die Mitbewerbenden. Wir sind stolz auf die ausgehandelte Lohnerhöhung, weil wir uns gegenüber dem Arbeitgeber besser verkaufen konnten als die Kollegin, im Büro nebenan. Wir werfen die Take-Away-Verpackung einfach weg, weil wir uns im öffentlichen Raum oder in der Natur für nichts verantwortlich fühlen. Auf dem Karriereweg nach “oben” oder zu mehr “Wohlstand” arbeiten und leben wir heutzutage auch immer auf Kosten anderer.
Warum tun wir das?
Die Frage ist aber noch immer nicht beantwortet: Warum tun wir das? Sind wir angetrieben vom unüberwindbaren Schlechten? Ist es vielleicht eben doch die Folge der alttestamentarischen Geschichte, des unausweichlichen kollektiven Rausschmisses der Menschen aus dem Paradies?
Nein, in einer Welt in welcher vor allem die Leistung zählt, fallen andere Werte schnell unter den Tisch. Der Beste soll gewinnen und die Performance muss stimmen. Dieses Mantra kennt jeder. Wettbewerb und Konkurrenz begleitet uns ein Leben lang. Sie „beleben die Wirtschaft“ und führen zu den gewünschten Emotionen im Sport. Aber wo Gewinner gekürt werden, sind Verlierer vorprogrammiert. Und wo nur Erfolg zählt, ist auch der argwöhnisch Blick auf die Konkurrenz nicht fern. So entstehen Jäger und Gejagte.
Ist Wettbewerb und Konkurrenz einfach eine gesellschaftliche Spielart von Darwins Evolutionstheorie, wonach in der Natur nur die am besten angepassten Individuen überleben können (“Survial of the fittest”)? Ist also vorgegeben, dass in unserer Gesellschaft nur die Winner weiterkommen?
Besser als sein Ruf
Was die Spezies Mensch betrifft, hat die Neurobiologie in den letzten Jahren viele erhellende neue Erkenntnisse hervorgebracht. Und sie zeigen zweifelsfrei, der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen.
Prof. Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, zieht deshalb auch das Fazit: “Der Mensch ist besser als sein Ruf”. In seiner Entwicklung hat es sich für den Menschen als Vorteil erwiesen aufeinander zuzugehen: “Nicht Konkurrenz und rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen waren der Grund für den evolutionären Erfolg der Menschen, sondern – Vertrauen und Kooperation”. (siehe Deutschlandfunk: Warum wir mitfühlen).
Joachim Bauer, ein renommierter Medizinprofessor und Psychotherapeut aus Freiburg i.B. meint: „Das natürliche Ziel der [menschlichen] Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen.“ (siehe Frankfurter Rundschau: Wieso Kooperation zufrieden macht). Aber warum handeln wir dann immer und immer wieder gegen unsere eigene Natur?
Diktatur des Settings
Es ist das Setting, was uns dazu verleitet.
Wenn etwas stark gefordert, ja zum Überleben notwendig ist, dann wird getan, was getan werden muss, um es zu erreichen. In unserer von Lohnarbeit geprägten Gesellschaft ist jeder auf ein Einkommen angewiesen. Wollen wir nicht aus der respektierten Gesellschaft ausgeschlossen und zum „Sozialfall“ werden, dann müssen wir uns eben so verhalten, wie es die Gesellschaft von uns verlangt.
Kooperation, beispielsweise, ist in der Regel nicht gefragt. Gründen wir ein neues Startup, dann heisst das: besser sein als die Konkurrenz. Denn sonst war’s das auf Dauer. Als Angestellte müssen wir uns auf dem Arbeitsmarkt behaupten, unseren Marktwert steigern oder zumindest versuchen, durch Weiterbildungen oder Praktika unseren Wert zu halten. Sonst haben wir das nächste Mal das Nachsehen und finden keinen Job. Denn so sind die Regeln von Konkurrenz und Wettbewerb.
Wir lernen seit Kindesbeinen, dass nur der eine Chance auf Erfolg, eine sinnvolle Arbeit, Anerkennung, genügend Geld, sprich eine Zukunft hat, wer die gesellschaftlichen Anforderungen erfüllt, oder noch besser, übertrifft. Die Besten sind es, welche weiterkommen. Sie sind unsere Vorbilder, ihnen sollen wir nacheifern. Und die Schönen und Reichen zeigen uns in den Sozialen Medien, wie es aussieht, wenn es geschafft ist: Luxus, Annehmlichkeit, ein sorgenfreies Leben, das ist der Lohn. Viele scheitern vorher, sei es mit einem Burnout, psychischen Problemen oder körperlichen Schäden.
Aber der “Fortschritt” schreitet eben fort und dies ohne sichtbares Ende und ohne Zwischenhalt und Pause. Und wer nicht mitkommt, wird bestenfalls in separierten Institutionen aufgepäppelt und wieder fit gemacht, für die erneute Integration in die Arbeitswelt. In der Hoffnung, dass er es wenigstens diesmal schafft.
Alle gegen Alle
Es ist ein eigentlicher (Über-)Lebenskampf, welcher – weltweit akzeptiert – ausgetragen wird. Jeder gegen jeden: Staaten und Länder, Konzern, KMU, Familienunternehmen und Startups, Milliardäre, Oligarchen, Bänker oder Influenzer. Wenn nicht Du, dann ich!
Da wird auch mal in die Trickkiste gegriffen und werden in Unternehmen, unter dem Denkmantel des Teambuildings, Events zur Stärkung des Teamzusammenhaltes veranstaltet. Im bewussten Durchleben von Extremsituationen sollen die Teams zusammenwachsen. Das Ziel: Gemeinsam stärker und besser werden – besser als die Konkurrenz, selbstverständlich. So wird „Kooperation“ auch gezielt als Unternehmensvorteil angewendet.
Dieser Konkurrenzkampf ist ein endloser Wettbewerb um Gewinne und Gewinner und führt zwangsläufig zu Verlierern und Verlusten. Sind wir nicht selber davon betroffen, dann leiden andere Lebewesen oder allgemein, die Natur darunter. Denn Konkurrenz und Wettbewerb schlafen nicht und kennen kein Pardon. Und sie sind akzeptierter Bestandteile unseres Gesellschaftssystems.
Der Staat versucht, die, im Zuge dieses Gesellschaftsvertrages entstandenen “Kollateralschäden”, mit verschiedenen sozialen Massnahmen, Gesetzen und Institutionen “abzufedern”. Trotzdem steigen die Gesundheitskosten Jahr für Jahr auf neue Rekordhöhen und der Wohlstand (ausgedrückt in BIP (Bruttoinlandprodukt) pro Kopf) droht zu sinken, weil die Wirtschaftsleistung, nicht im gewünschten Masse angestiegen ist. Gleichzeitig schreitet die Ausbeutung der Erde fort.
Kriselnde Wirtschaft – völlig normal!
Wir fürchten uns vor den Auswirkungen der Inflation, einer möglichen darauf folgenden Rezession (Wirtschaftsabschwung), den steigenden Mieten und Hypothekarzinsen, höheren Steuern und Krankenkassenprämien, welche unser Einkommen schmälern und so unsere Freiheiten bzw. unsere zur Verfügung stehenden Mittel, einschränken.
Aber es ist in unserem Wirtschaftssystem nichts besonderes, wenn der Wirtschaftsmotor mal stottert. Es ist nur der Ausdruck der aktuellen “Konjunkturstimmung”, einer möglicherweise wechselnden “Stimmungslage der Wirtschaft”. Sie lässt erkennen, ob es zu einem Wendepunkt kommt. Denn diese Wendepunkte sind ganz normale Bestandteile unseres ewigen Konjunkturzyklus: „Auch wenn Rezessionen drastische Auswirkungen auf die Wirtschaft haben können, sind sie ein wichtiger Bestandteil des Geschäftszyklus: Wirtschaften wachsen, bis sie einen Gipfel erreichen, und schrumpfen danach wieder, bis sie einen Tiefpunkt erreicht haben, bevor sie erneut wachsen usw.“ (siehe IG Bank: Was ist eine Rezession und was sind die typischen Merkmale?). Und so weiter und so weiter und so fort…
Wer fragt die Menschen, ob sie dies alles noch wollen? Ob sie mit diesen Ängsten und Zwängen leben wollen? Ob sie ihre Arbeit als sinnvoll empfinden oder überhaupt noch leisten möchten? Und wie gross ist unsere Freiheit eigentlich noch, wenn die Auf und Abs unserer Wirtschaft über unsere Ängste und Zwänge bestimmen? Welche Handlungsfreiheiten bleiben uns da noch? Die ernüchternde Antwort: Leider nicht genug, um all unsere Probleme wieder in den Griff zu bekommen!
Das Wunder der Krisen
Und dann sind sie plötzlich da, die Katastrophen und Krisen: Sintflutartige Regenfälle, epische Dürren, orkanartige Stürme, infernale Waldbrände, tödliche Felsabstürze und Murgänge und Covid-19. In Form der Klimakrise kommen sie jetzt auch zu uns, nicht nur in die bekannten entfernten Gegenenden, die schon lange damit zu kämpfen und darunter zu leiden haben. Nein, die Krisen kommen mitten hinein in unsere wohlorganisierten Dörfer und fluten unsere Keller, verwüsten unsere Städte, verheeren unsere Tourismus-Destinationen, infizieren unsere Brüder, Schwestern und unseren Freundeskreis.
Und es geschieht das seltsam Unerwartete: Wir handeln plötzlich empathisch, werden kooperativ und helfen einander. Packen selbstlos an, wo’s notwendig ist, spenden Trost und verbreiten Zuversicht, sogar beim ollen Nachbarn von nebenan. Ein eindrückliches Beispiel: Das Jahrhundert-Hochwasser 2021 im deutschen Ahrtal:
“In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 wird das Ahrtal von einer Flutkatastrophe heimgesucht. Die Region liegt in Schlamm, Trümmern und Trauer. Zigtausend freiwillige Helfer kommen ins Tal. Bringen Wasser und Essen, Kleidung und Werkzeug. Packen an. Schippen Schlamm aus Häusern, in denen sie nie waren. Helfen Menschen, die sie nicht kennen. Spenden Geld, Hilfsgüter und Trost. Über Wochen und Monate. Einfach so.” (Aus dem Buch “Ein Hoch auf Euch!” von Annette Schriefers-Falk)
Was tun mit dem Potenzial?
Der Mensch besitzt ein immenses Potenzial an Fähigkeiten, Fantasie, Kreativität, Gefühlen und Ausdrucksweisen. Wie wir dieses Potential einsetzen, hängt in entscheidender Weise von den Bedingungen ab, welche erforderlich sind, um unser Überleben zu sichern und ein gutes Leben zu führen.
In Krisen verhalten wir uns erstaunlicherweise genau so, wie es der Natur des Menschen (z.B. gemäss den Forschungen der Neurobiologie) entspricht. Krisen machen auf einen Schlag deutlich, wie abhängig wir voneinander sind und auch wie sehr wir diese Abhängigkeit verinnerlicht haben: Ganz selbstverständlich und angetrieben aus uns selbst heraus, werden wir zu selbstloser Hilfe angespornt. Als Betroffene begegnen wir uns auf Augenhöhe, als Gleiche unter Gleichen. Besitz, Status und Stellung sind plötzlich bedeutungslos. Einzig der Mensch zählt und jeder hilft nach seinen eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Und als Nicht-Betroffene wissen wir (unbewusst) ganz genau: Das nächste Mal könnte es uns treffen und dann werden wir froh sein, wenn auch uns geholfen wird.
Was das Wirtschaftssystem verlangt
Unser aktuelles Gesellschaft- und Wirtschaftssystem verlangt etwas ganz anderes. Schon lange geht es nicht mehr um ein einfaches, gutes Leben (für alle), sondern es verlangt von uns mehr (Konsum, Arbeit, Zeit), als wirklich notwendig, und von der Erde (als Ressource), als überhaupt noch vorhanden ist (siehe WWF: Earth Overshoot Day).
Wir strampeln uns Jahr für Jahr in gleicher Weise ab und ernten damit weder mehr Zufriedenheit, noch erreichen wir einen vertrauensvolleren gesellschaftlichen Zusammenhalt oder eine lebenswertere, sichere Zukunft.
Wir müssen uns dringend die grundsätzliche Frage stellen, welche nicht heisst: Warum ist der Mensch so sündhaft und böse (bzw. egoistisch und gierig), dass er es mit unserer Welt soweit gebracht hat. Sondern: Warum schafft es der Mensch nicht, sich von seinen eigenen – notabene SELBSTANGELEGTEN – Fesseln zu befreien? Weshalb schaffen wir es nicht unser gesellschaftliches Setting so zu verändern, dass – wie bei Krisen – unsere positiven, emphatischen und selbstlosen Eigenschaften aus eigenem Antrieb angeregt und hervorgebracht werden? Zum Wohle aller?
Was motiviert uns und wohin wollen wir?
Die wichtigen Fragen sind doch so banal: Was wollen wir mit unserer Zeit anfangen, was zusammen erschaffen, wie zusammen leben und lieben? Was brauchen wir dazu und wie beschaffen wir das Notwendige, auf einem endlichen und sehr verwundbaren Planeten?
Wie ordnen wir uns ein, als eines unter Myriaden von Lebewesen, welche doch alle irgendwie miteinander verbunden und voneinander abhängig sind? Und natürlich, welche Welt wollen wir unseren Kindern, für ihre Zukunft, hinterlassen?
Diese Fragen sollten wir gemeinsam beantworten und darauf eine Gesellschaft aufbauen, welche nicht von einer Kosten-Nutzen-Maximierung, sinkenden Börsenkursen oder steigenden Zinsen abhängig ist.
Wir haben uns Zwänge geschaffen und Mechanismen unterworfen, welche es in der Natur nicht gibt und für jedes andere Lebewesen völlig sinnfrei sind. Sie sind bloss Teil einer “Scheinwelt”, welche wir Menschen geschaffen und ins kollektive Bewusstsein unserer Gesellschaft eingewoben haben.
Dies heisst aber auch, sie sind nicht “Gott gegeben”: Wenn wir es wollen, dann können wir sie auch wieder loswerden, durch etwas neues ersetzen und uns damit aus dem Jahrhunderte dauernden kollektiven Schwitzkasten befreien.
Wir müssen uns darauf zurückbesinnen, dass wir als Menschheit gemeinsam auf diesem einen, einsamen, fantastischen und einzigartigen Planeten durch den endlosen schwarzen Weltraum reisen und es dabei vor allem darum gehen sollte, zusammen eine möglichst gute Zeit zu haben. Für alle, jetzt und in Zukunft.
2 Antworten
Sehr spannend!
Tolle Analyse, aber der Schlußabsatz “ wir müssen uns darauf zurückbesinnen…“ reicht nicht aus: Wir müssen handeln, d.h. den Tanz um das Goldene Kalb beenden, die Geld-/Finanzwirtschaft als Ganzes komplett abschaffen und durch eine Netzwerkökonomie ersetzen, wo jede*r nach seinen/ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen produziert und konsumiert.