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Der Rand der Gesellschaft

Anlässlich unseres Monda Futura Team-Events im Februar nahmen wir an einem sozialen Stadtrundgang des Vereins Surprise teil. Hans Rhyner, ein Direktbetroffener und „Experte der Strasse“, teilte mit uns seine bewegte Geschichte und führte uns in Zürich an Orte der Zuflucht, des Zusammenseins und der Gemeinschaft, wo Menschen in Not und schwierigen Situationen beigestanden wird. Neben den Grundbedürfnissen z.B. nach einer warmen Mahlzeit, einem Bett, der Möglichkeit für Körperpflege und etwas Gesellschaft, wird auch Hilfe für den Alltag geboten: Sei dies beim Umgang mit den Behörden, bei der Suche nach einer Bleibe, nach jemandem, der die gleiche Sprache spricht oder einfach mit einem offenen Ohr und etwas Zeit.

Was mich tief beeindruckte: Hier wird ganz selbstverständlich, unbürokratisch und mit einer riesigen Empathie jedem Menschen das Notwendige zuteil. Und dies unabhängig von seiner Ethnie, Religion, Herkunft und Geschichte.

Rand der Gesellschaft?

Viele Menschen, die an diesen Orten ein und aus gehen, leben am Rand der Gesellschaft. Doch wer oder was definiert eigentlich diesen “Rand”. Und wieso hat unsere Gesellschaft überhaupt einen Rand? Bilden wir nicht alle zusammen einfach eine Gesellschaft? Wer bestimmt, dass jemand jenseits dieses ominösen Randes steht, also eine Grenze, aus der Gesellschaft hinaus, überschritten hat?

Die Identität als „Randständige“ wird durch die „Dominierenden“ einer Gesellschaft definiert und geht einher mit Verdrängung und Ausgrenzung: Mitgliedern von Randgruppen wird erschwert, vollständig in die Gesellschaft integriert zu sein und gleichen Zugang zu Ressourcen und Chancen zu haben. Diese Marginalisierung kann sich z.B. geografisch durch die Lokalisierung in Slums oder Banlieues etablieren. Oder sie zeigt sich sozial in der Benachteiligung von queeren Menschen oder Menschen mit Beeinträchtigung. Auch kulturell macht sie sich bemerkbar, als Fremdenfeindlichkeit gegenüber Geflüchteten oder wirtschaftlich als Arbeitslosigkeit, indem Menschen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.

Am Rand herrscht Armut

Am Rand der Gesellschaft wird die wirtschaftliche Ausgrenzung sehr schnell zur Überlebensfrage. Deshalb rutschen viele Betroffene in die Armut ab. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS definiert Armut wie folgt: „Armut als relatives Phänomen bezeichnet Unterversorgung in wichtigen Lebensbereichen wie Wohnen, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und sozialen Kontakten. Bedürftigkeit besteht, wenn ein Haushalt die notwendigen Ressourcen für die Lebenshaltung nicht selbst aufbringen kann bzw. wenn das Haushaltseinkommen nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern unter dem sozialen Existenzminimum liegt.“

Das Schweizer Bundesamt für Statistik schreibt: „Im Jahr 2021 liegt die Armutsgefährdungsgrenze für einen Einpersonenhaushalt bei 30’185 Franken pro Jahr. 14,6% der Bevölkerung der Schweiz oder fast jede siebte Person ist von Armut bedroht.“. Dies betrifft rund 1.2 Mio. Menschen!

Und das Schweizer Kinderhilfswerk Kovive stellt fest: “Im Schnitt sitzen damit pro Schweizer Schulklasse ein bis zwei armutsbetroffene und zusätzlich ein bis zwei armutsgefährdete Kinder und Jugendliche.

Ausgrenzung tut weh

Soziale Ausgrenzung oder sozialer Ausschluss wegen zu wenig Geld im Portemonnaie? Das ist bittere Realität. Der Ausschluss aus der Gesellschaft kommt für die betroffenen Personen einer Höchststrafe gleich. Denn es bedeutet soziale Isolation durch Verwehrung des Zugangs oder der Teilhabe an wesentlichen gesellschaftlichen Gütern oder Dienstleistungen. Angst, Depressionen und Einsamkeit, Verlust der Selbstachtung, Abwendung von Familie, Freund:innen und Bekannten sowie gesundheitliche Probleme können die Folge sein. Wissenschaftler fanden zudem heraus, dass zurückgewiesen oder ausgeschlossen zu werden, dieselben Hirnregionen aktiviert wie körperliche Schmerzen.

Aber wie kann es überhaupt zu so einer solchen grausamen „Strafe“ kommen?

„Unser Land verfügt über einen grossen Wohlstand, der auch viele Menschen erreicht. Zugleich sind wir aber eine Hochleistungsgesellschaft, die viel abverlangt und sehr selektiv ist“ sagt Raphael Golta, Sozialvorsteher der Stadt Zürich 

Performen oder absteigen

Wir definieren uns durch unsere persönliche „Performance“. Wer zu wenig performt, die gesellschaftlich geforderte Leistung nicht erbringt, sich im Hamsterrad der Lohnarbeit nicht profitabel verkaufen kann, oder als Working Poor mit seiner Arbeit zu wenig Geld erwirtschaftet, bleibt schnell mal auf der Strecke. Aufgerieben im wirtschaftlichen Kampf um Konkurrenz und Wettbewerb und zum Looser oder faulen Nichtsnutz abgestempelt, verschärfen Alkohol, Drogen und die falschen Freund:innen die prekäre Lage und lassen die Abwärtsspirale weiter drehen. Und so wird schleichend über diesen Menschen der soziale Bann verhängt.

Als Sozialstaat brüsten wir uns, unsere „Schwächsten“ nicht allein zu lassen, sondern zu unterstützen. Und so wird denn auch versucht, die unten Angekommenen, mit privaten und kirchlichen Organisation oder staatlichen sozialen Einrichtungen wieder aufzurichten und aus der Talsole heraus zu führen. Bei der gesellschaftlichen Integration steht dabei die Rückführung in den Arbeitsmarkt im Vordergrund. Denn niemand will und soll dem Staat ewig auf der Börse liegen oder von privaten Zuwendungen abhängig sein.

Wir sind abhängig

Die Abhängigkeit von Anderen ist sowieso DAS soziale Schreckgespenst unserer Gesellschaft. Freiheit und Ungebundenheit sind uns heilig. Erst recht, wenn’s ums Geld geht: Jeder hat für sein Leben selber aufzukommen. Und kann er dies nicht, dann hat er eben den entscheidenden Grundsatz unseres Gesellschaftsvertrages weder verstanden noch erfüllt. Zum Einzelkämpfer erzogen, streben wir deshalb möglichst früh die eigene Selbstständigkeit an. Abhängigkeiten sind anstrengend, engen ein, verlangsamen unser Weiterkommen, stehen im Widerspruch zur eigenen Autonomie und verlangen unter Umständen auch noch, Verantwortung für andere zu übernehmen.

Doch wie kann es sein, dass uns die gesellschaftliche Integration, durch den wirtschaftliche Zwang zur Arbeit, als Unabhängigkeit und Selbstständigkeit verkauft werden kann? Fakt ist, wir alle leben in einer unglaublich starken, gegenseitigen, globalen und vor allem wirtschaftlichen Abhängigkeit. Und wir sind mit Verträgen an Arbeitsstellen gebunden, welche uns zu Loyalität verpflichten und für welche wir in der Regel mehr Zeit aufwenden als für unsere eigene Familie. Für viele bedeutet denn auch die durch tägliche Lohnarbeit gewonnene finanzielle „Freiheit“, einen Verlust an sinnvoller Lebenszeit und persönlicher Freiheit. Wir erkaufen uns letztendlich unsere gesellschaftliche Einbindung und Anerkennung mit dem Verkauf unserer Arbeits- und Lebenszeit.

Wie erstrebenswert und menschenfreundlich kann eine Gesellschaft überhaupt sein, wenn ihre Ansprüche so hoch und ihre Selektion so unerbittlich ist?

Läuft’s am Rand anders?

Wenn wir anlässlich eines Sozialen Stadtrundgangs durch die Randgebiete unserer Gesellschaft geführt werden, dann stellen wir sehr schnell fest: Hier läuft etwas völlig anders! In diesem kleinen Kosmos der Gebrochenen und Ausgestossenen ist mehr Menschlichkeit und Weisheit zu finden, als in der von Arbeit und Geld getriebenen Wohlstandsgesellschaft. Ja, hier kann ein wahrer Schatz gehoben werden, denn wo die Scheinwelt des Geldes und das Glitzern des Wohlstandes verblasst, da ist der Mensch nur wieder Mensch.

Arm aber hilfsbereit?

Wo niemand mehr viel hat, steht Zusammenhalt und Hilfe wieder im Zentrum. Das gegenseitige Verständnis ist höher und die kleinen Freuden werden wieder gross gefeiert und gute Freund:innen genauso oder sogar mehr geschätzt, als ein weiches Bett und eine warme Unterkunft.

Es soll hier nicht die Welt der Randständigen idealisiert werden. Auch hier gibt es unter den Betroffenen gegenseitige Diskriminierung und Ausgrenzung. Aber strikte Regeln gepaart mit konsequentem Handeln, Empathie und Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen und den unzähligen Ethnien helfen hier, in den Gassenküchen und Notschlafstellen, das Zusammensein so zu regeln, dass unterschiedliche Menschen mit ihren zum Teil abgründigen Lebenshintergründen, sich trotzdem an- und aufgenommen und als Teil einer Gemeinschaft fühlen.

Was kann uns das lehren? Der bekannte und vielzitierte Satz von Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, macht darauf aufmerksam, wohin der Blick in der Gesellschaft bevorzugt zu richten sei: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt“. Doch was, wenn die Schwächsten nur deshalb die Schwächsten sind, weil unsere Gesellschaft sie dazu gemacht hat? Sie dazu verknurrt, ja ausgestossen hat, weil wir in einer Hochleistungsgesellschaft einfach keinen Platz für sie haben?

Der Rand hat systemische Ursachen

Wir bemühen uns um eine inklusive Gesellschaft und bieten den Randständigen einen Ort, wo sie aufgefangen und eine zweite Chance für die Rückkehr in die Gesellschaft erhalten sollen. Nur, die Grundsätze unserer Wettbewerbs-Gesellschaft ändern sich dadurch nicht. Wir, als wohlhabender Staat, können uns noch einen “zweiten Arbeitsmarkt”, mit abgespeckten Anforderungen, sozusagen eine “Lightversion” der Premiumvariante, des “ersten Arbeitsmarktes”, leisten und die Arbeitgeber finanziell unterstützen, damit die fehlenden Profite sich nicht in einem geschäftlichen Verlust bemerkbar machen. Aber eines ist klar: Eine Hochleistungsgesellschaft kann per Definition nie inklusive sein. Der hohe Leistungsanspruch ist ja gerade der Mechanismus, welcher “den Weizen von der Spreu” trennt.

Es sind deshalb leider auch wir, die gesellschaftlich Integrierten, die als Treiber:innen und Mitläufer:innen dieser Leistungsgesellschaft, die Ausgrenzung am Leben erhalten und damit die Ränder betonieren.

Von den Rändern her denken

Bildquelle: Sozialer Strassenrundgang (Surprise.ch)

Wenn wir von einer lebenswerten Zukunft mit einer inklusiven Gesellschaft träumen, dann sollten wir sie wohl am Besten von ihren Rändern her neu denken. In den hier entstandenen Parallel-Gesellschaften werden nämlich die uns spaltenden Themen, wie Armut, Arbeitslosigkeit, Fremdenhass, Zukunftsangst und Hoffnungslosigkeit ernst genommen und wird in Kooperation nach Lösungen gesucht. Wir, die “Dominierenden”, haben kaum Gehör für diese „Kollateralschäden“ unserer ausgrenzenden Gesellschaft. Und wenn doch, dann vornehmlich für populistische Vereinfachungen zu Propagandazwecken mit dem Ziel des Erhalts des Status Quo. Mehr liegt nicht drin. Eine Ursachenbekämpfung würde uns nur von den wirklich wichtigen Dingen ablenken: Unserer Arbeit, unserem Weiterkommen, unserem Fortschritt und unserem Wohlstand.

Während wir mit Konkurrenz und Wettbewerb den Ausverkauf, die Ausbeutung und Zerstörung der Erde – und damit auch von uns selber – vorantreiben, wird an den Rändern täglich neu versucht mit Verständnis und Zusammenhalt eine menschlichere Welt aufzubauen: Geld, Besitz, Stellung und Titel sollen nicht den Ton angeben. Gelebte Verantwortung und praktizierte Gemeinschaft steht stattdessen im Vordergrund – in Guten wie in schlechten Zeiten.

Hier kann gelernt werden, dass nur der aus einer aussichtslosen Lage herauskommt, welcher sich demütig und selbstkritisch hinterfragt und offen ist, sich auch mal in die Abhängigkeit von anderen zu begeben. Das aufeinander Zugehen und die gemeinsame Suche nach echten Lösungen sind das Wichtigste. Konkurrenz und Wettbewerb? Die haben Hausverbot!

Eine kostenlose warme Suppe, ein offizieller, reservierter Unterschlupf oder das Angebot des selbstorganisierten Verkaufs von Surprise-Magazinen, kann diesen Menschen wieder etwas Würde zurückgeben. Ein Grundrecht, welches ihnen nur hier, am Rand der Gesellschaft, selbstverständlich entgegengebracht wird.

Mit den geführten Einblicken in ihre „Randständigkeit“ lassen sie, uns – die Kurzsichtigen –, aber auch einmal über unseren eigenen Tellerrand hinausschauen und tiefe Einblicke in Schicksale gewähren, welche berühren und zeigen, das es nur allzu schnell jeden treffen kann.

Und viele von uns werden dabei vielleicht erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass nicht wenige dieser Gestrandeten ihr jetziges einfaches Leben als erfüllter betrachten und ihr tägliches Glück eher auf der Strasse finden, als im Hamsterrad unseres „normalen“ bürgerlichen Wohlstandslebens.

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Werner Schuller

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