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Visionen – Commons Emme im Emmental

Im meinem letzten Artikel bin ich der Frage nachgegangen, ob es vielleicht eine gemeinsame Vision gibt, welche uns Menschen bei unserem Tun auf unserer Erde leitet. Sind es vielleicht all die politischen Ideologien oder ist es der technologische Fortschritt, oder gar der weltumspannende Kapitalismus, welche uns unaufhaltsam in eine gemeinsame Richtung vorwärtstreiben? All diese Treiber haben einen Einfluss auf den von uns eingeschlagenen Weg. Doch eine Gemeinsamkeit, eine grundlegende Idee, was wir als Menschheit auf dieser Erde erreichen möchten, lässt sich darin nicht erkennen.

Unter den Treibern sticht aber einer in Extremis hervor: So frei wir in Gedanken, in unserem Träumen und so genial unsere Vorstellungen einer Welt von Morgen auch sein mögen, eine abstrakte erdumspannende Kraft hat bei deren Umsetzung immer das letzte Wort: Der Kapitalismus. Dessen Systemzwänge entscheiden, was von all jenem, das wir möchten und wollen, am Schluss in die Welt kommt und dort bleibt und was nicht!

Von den offensichtlichen Missständen unseres jahrhundertelangen Handeln angetrieben, hat die UNO mit ihren SDGs so etwas wie ein Leitfaden zur Erreichung einer lebenswerteren Zukunft geschaffen. Die Ziele kommen insgesamt einer Zukunftsvision sehr nahe und können Regierungen, Gemeinden und Bürger:innen als Orientierung dienen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber aus den Zwängen einer kapitalistischen Gesellschaft, die einen Grossteil der zu bekämpfenden Probleme ja erst oder zumindest mit verursacht hat, kommen wir damit leider nicht heraus.

Begeben wir uns deshalb heute mal auf eine Zukunfts-Reise ins Jahr 2032.

Besuch auf dem Hof von Mia und Noah

Auf dem Bauernhof von Mia und Noah im Emmental haben sich Vertreter:innen von Commons Emme eingefunden.

Commons Emme ist ein Verbund von Konsument:innen und Produzent:innen, welche ihre Versorgung mit Lebensmitteln in die eigene Hand genommen haben. Ihr Erfolgsrezept: Die Bedürfnisse aller Beteiligten stehen im Mittelpunkt. Sie verstehen sich dabei nicht als ein Unternehmen, sondern als eine gemeinschaftsbezogene Organisation und auch als soziale Bewegung.

Commons Emme ist eine Organisation ohne Hierarchien und Chefs. Vieles ist nicht schriftlich verankert, sondern lebt in der Organisation durch das tägliche Miteinander und basiert auf Respekt, Fairness und Solidarität. Dies schafft Vertrauen und wo Vertrauen ist, ist alles möglich!

Die Mitglieder von Commons Emme kennen die Bauernfamilie schon länger. Mia und Noah vertrieben ihre landwirtschaftlichen Produkte bisher über den Detailhandel. Sie gehören noch zu jenen Bauern, welche mit den Konzernen Coop, Migros & Co zusammenarbeiteten. Viele ihrer Berufskolleg:innen hatten sich bereits früher für Alternativen entschieden. Sie waren den Preisdruck und den ständigen Kampf ums Überleben leid und wollten nicht mehr Spielball von Markt und Politik sein. Nicht wenige stiegen aus diesem Grund auch bei Commons Emme ein.

Was braucht Ihr, um eine Ernte einbringen zu können?

Mia & Noah hatten in den letzten zwei Jahren bereits probeweise Commons Emme mit ihren Produkten beliefert. In Protokollen wurde jeweils anfangs Saison festgehalten, welche Mengen an Gemüse sie voraussichtlich an Commons Emme liefern könnten – gemäss Nachfrage der angeschlossenen Konsument:innen. Auch wurde ein fairer Preis abgemacht, basierend auf der einfachen Frage an die Bauern: was braucht ihr, um eine Ernte einbringen zu können? 

Nach zwei Jahren möchten Mia & Noah nun weitergehen, Mitglied werden und ganz auf Commons Emme setzen. Die Aufnahme neuer Mitglieder basiert auf einer natürlichen Integration durch regelmässige Teilnahme, Engagement und die Übernahme von Verantwortung in den verschiedenen Bereichen der Genossenschaft.

Nach einem kurzen Rundgang über den Betrieb setzen sich nun alle in der einfach hergerichteten Scheune auf die im Kreis angeordneten Strohballen. Die Atmosphäre ist gelöst, die Stimmung heiter.

Versammlungen gibt es bei Commons Emme viele. Dabei geht es nicht um Traktanden. Der gegenseitige Austausch ist wichtiger. Es wird über das geredet, was gerade ansteht. Jeder bringt sich ein und so entstehen rege Diskussionen. Die Zusammenkünfte dienen in erster Linie dem Aufbau gegenseitigen Vertrauens. Schon während der letzten zwei Jahre waren Mia & Noah immer wieder an solchen Versammlungen gewesen und hatten mit Erstaunen miterlebt, wie alle Entscheidungen statt durch Abstimmungen konsensorientiert zustande kamen.

Es geht um Bedürfnisse

Die von Mia angesprochenen Probleme mit ihren Kartoffeln, während der anhaltend feuchten Witterung der letzten Monate, werden gerne aufgenommen und rege diskutiert. Es zeigt sich, dass nicht alle gleich grosse Probleme hatten und einige Mitglieder mit anderen Sorten kleinere Ernteausfälle verzeichnen.

Für die neue Erntesaison wird deshalb beschlossen, jene Kartoffelsorten vermehrt anzubauen, welche den feuchtnassen Monaten bisher am besten getrotzt haben.

Womit sie bereits bei der neuen Vereinbarung für Mia & Noah und das nächste Jahr angelangt sind. Der vorhin gefasste Sortenentscheid für die Kartoffeln wird gleich in den vorbereiteten Papieren angepasst, mit dem Vorbehalt, dass die entsprechenden Sorten auch als Saatkartoffeln verfügbar sind. Weiter wird mitgeteilt, welche anderen Feldfrüchte und welches Gemüse in welchen Mengen von Mia und Noah im nächsten Jahr voraussichtlich produziert werden können und wieviel Fleisch und Milch zu erwarten ist.

Commons Emme hatte auch dieses Jahr wieder die Bauernfamilie in Vorgesprächen mit den Bedürfnissen ihrer Mitglieder und den sich daraus ergebenden Bedarfsmengen bekannt gemacht. Dieses Jahr wurde an einer der vielen Regional-Versammlungen, wo sich Produzent:innen und Konsument:innen regelmässig treffen, beschlossen – im Sinne einer ökologischeren Proteinversorgung – mehr Hülsenfrüchte und weniger Milch und Fleisch zu produzieren.

Dies kommt Mia und Noah sehr entgegen. Sie hatten sowieso vor, den Viehbestand zu reduzieren. Mit Leguminosen haben sie bereits langjährige Erfahrung, aber halt vor allem im Anbau als Futtermittel für ihre Kühe.

Zusammen den Markt ignorieren

Mit der Gründung der Commons Emme fand in vielen Gemeinden entlang der Emme ein Umdenken statt. Wenn sich Bauern und Dorfbewohner:innen zusammentun und jeder die Bedürfnisse, Wünsche und Probleme des anderen kennt, wozu braucht es dann noch einen mächtigen, preisdiktierenden Zwischenhandel? Warum sollte es nicht möglich sein, dass die Bauern und Bäuerinnen einfach das lokal produzieren, was die die umliegende Bevölkerung sich zu essen wünscht? Wieso muss etwas lokal Produziertes zuerst in der halben Schweiz herum transportiert werden, um am Schluss wieder am gleichen Ort gekauft und konsumiert zu werden? Das ergab alles keinen Sinn.

Commons Emme wählt dazu einen radikalen Ansatz: Es ignoriert den Markt, indem es z.B. den Preis von Obst, Gemüse und Getreide vom Marktpreis entkoppelt. Statt eines kompliziert berechneten Produktpreises, unter Einbezug der Konkurrenz, wird einfach die gesamte Produktion aller Bauern (z.B. eines Monats) gewogen und werden die dabei entstandenen Ausgaben zusammengezählt. Mit dem Dividieren des einen durch das andere ergibt sich ein Einheitskilopreis, welcher für alle verkauften Produkte gilt. Der Massstab für die Preissetzung sind alle Ausgaben, inklusive dem, was die Produzierenden zum Leben brauchen. Das Ziel ist, dass jede Bauernfamilie soviel erhält, wie sie für ein gutes Leben benötigen, aber auch, dass die angeschlossenen Konsument:innen diese Preise zu zahlen bereit sind.  

Der Einheitskilopreis für sämtliches Obst, Gemüse und Getreide, aber auch für Milch und Fleisch wird in offenen Diskussionen festgelegt. Von den Genossenschafter:innen, die produzieren, jenen, die mit ihnen zusammenarbeiten und jenen, die die Produkte als Konsument:innen beziehen. Das Überraschende dabei: Die Preise liegen kaum je über denen der Detaillisten! Denn es entfallen die Aufwände für Marketing und Werbung. Und dank der Transparenz gibt es auch keine versteckten Kosten. Commons Emme ist in der Preisgestaltung deshalb weitgehend souverän.

Aufnahme in eine grosse Familie

Auf dem Hof sind nun alle Anwesenden über die Vereinbarung informiert und es folgt der feierliche Teil: Die Aufnahme von Mia & Noah als neue Mitglieder.

Wie bei Aufnahmen neuer Mitglieder üblich, übernimmt ein Mitglied der Delegation das Wort und fasst zusammen, welches Bild sich von Mia & Noah durch die bisherige Zusammenarbeit und die vielen Wortmeldungen bei der letzten Besprechung ergeben hat. Die endgültige Aufnahme erfolgt nämlich immer durch Zustimmung der bestehenden Mitglieder, deshalb braucht es nun eine kollektive Entscheidung durch die Mitglieder.

Die vielen positiven Voten und Stimmen zeigen, dass es einem gegenseitigen Bedürfnis entspricht, Mia & Noah als neue Mitglieder aufzunehmen. In der Scheune sind sich alle einig. Nach zwei Jahren Engagement war die Aufnahme ja eh nur noch eine Formsache. Alle klatschen und gratulieren. Und mit einer kurzen Dankesrede heisst die Delegation die neuen Mitglieder willkommen. Mit einem kleinen Apéro geht die Versammlung in den gemütlichen Teil über.

Als Genossenschaftsmitglieder von Commons Emme sind Mia & Noah nun Teil einer grossen Familie mit allen Rechten und Pflichten. Die Rechte umfassen die Möglichkeit, Entscheidungen im Sinne des ganzen Kollektivs auch mal alleine zu fällen oder auch ein Veto gegen einen Vorschlag einzulegen, wenn sie damit nicht leben können. Ein Veto löst jeweils eine neue Diskussionsrunde aus. Es wird dann solange geredet bis ein “erweiterter Konsens” hergestellt oder die Diskussion ausgesetzt wird, weil aktuell keine Lösung möglich scheint.

Konsens und Vertrauen in Do-It-Together-Partnerschaften

Dass über Projekte oder Vorschläge nicht abgestimmt wird, sondern immer ein Konsens erreicht werden soll, hat einen tieferen Grund: So wird verhindert, dass es Fronten und damit Gewinner:innen und Verlierer:innen gibt. Etwas wird erst dann umgesetzt, wenn sich alle einig sind oder zumindest niemand einen starken Einwand gegen einen Vorschlag hat. Dass es dabei kaum zu langen Blockaden kommt, ist der Kultur zu verdanken, welche über Jahre aufgebaut wurde und ein Wir-Gefühl entstehen liess, welches alle Mitglieder verinnerlicht haben: Jeder versucht im Sinne von Commons Emme zu denken, zu entscheiden und zu handeln.

Die Basis in dieser Gemeinschaft bildet denn auch gegenseitiges Vertrauen, volle Transparenz, fortwährender Informationsaustausch und keine Hierarchien.

Gegenseitiges Verständnis und Vertrauen wird auch dadurch gefördert, dass die Wochenmärkte jeweils gemeinsam aufgebaut und betrieben werden. Wo Läden zur Verfügung stehen, werden die Waren am Markttag im Turnus von den Höfen abgeholt und ins Dorf gebracht. Dies führte in der Folge auch zu einer Wiederbelebung der Dörfer, indem Dorfplätze neu entstanden oder zu Treffpunkten und Aufenthaltsorten umgestaltet wurden.

Gerade in schwierigen Zeiten, wenn die Geldwirtschaft Kapriolen schlägt, das Klima verrückt spielt und die Sorgen und Nöte immer mehr und grösser werden, sind solche Do-It-Together-Partnerschaften von unschätzbarem Wert, weil sie robust und krisensicher sind. Es geht eben nicht um Käufer:innen- Verkäufer:innen-Beziehungen, sondern darum, in gegenseitigem Vertrauen das Notwendige für die Befriedigung der Bedürfnisse aller zu tun und sich von der Verrücktheit einer geldbasierten Marktwirtschaft möglichst wenig diktieren zu lassen.

Mehr als Produzent:innen

Aber Commons-Emme ist nicht nur eine Nahrungsmittelkooperative. In einigen Dörfen sind auch solidarisch geführte Verarbeitungsbetriebe entstanden, in welche z.B. Tomaten zu Tomatensauce, Getreide zu Mehl gemahlen, Weizengries zu Pasta und Milch zu Käse und Joghourt verarbeitet wird.

Doch Commons Emme hat noch Grösseres im Sinn: Sie will in den nächsten Jahren ein Gesundheitszentrum aufbauen. Das Gesundheitswesen ist schon zu lange DAS Sorgenkind. Die jährlich steigenden Kosten und der Unmut bei den Beschäftigten liessen die Idee heranreifen, dass die mit Commons Emme gemachten Erfahrungen vielleicht auch in diesem Bereich ein Umdenken einleiten könnte. Ein Umschwenken von einer zwanghaft gewinnorientierten auf eine rein bedürfnisorientierte Ausrichtung, getragen von einer Gemeinschaft, ohne Hierarchien, mit Einheitslöhnen und – soweit möglich – mit Rotationsjobs, könnte sowohl für Patient:innen also auch für die Beschäftigen die ersehnte Beruhigung bringen.

Cecosesola: Wenn gelebtes Leben visionär wird

Ach ja, was für eine schöne Vision! Aber leider zu schön, um wahr zu sein und zu idealistisch um in unserer Welt bestehen zu können.

Wirklich? Weit gefehlt, in Venezuela ist diese Vision seit 58 Jahren Realität! Cecosesola heisst dort der Verbund aus 30 Kooperationen mit 23’000 Mitgliedern und über 1000 Festangestellten, welche zusammen ein Beerdigungsinstitut, vier riesige Lebensmittelmärkte und ein Gesundheitszentrum betreiben und so etwa 250’000 Menschen versorgen. Und dies in einem Land, in dem die Wirtschaft am Boden liegt, die Inflationsrate 2023 über 300% betrug, die Korruption grassiert und extreme Armut die Regel ist. 2022 gewann Cecosesola den Right Livelihood Award, auch alternativer Nobelpreis genannt.

Teresa Correa, Genossenschafterinnen der ersten Stunde und heute mit ihren 70 Jahren vielfache Großmutter meint auf die Frage, was sie denn im Innersten anspornt: “Vielleicht sind wir auch gar keine Genossenschaft mehr, sondern eine Organisation, der es um das persönliche Wachstum und das Miteinander geht.”

Gustavo Salas, ein Urgestein von Cecosesola sagte in einem Interview: Wir gehen nicht von einem Traum aus, wie die Welt oder die Gesellschaft sein soll. Dieses »So soll die Welt sein« endet oft damit, dass das, was »sein soll«, den Menschen aufgezwungen wird. Wir gehen von uns und unserer Kultur aus und sind uns sehr bewusst, dass kulturelle Transformation Zeit braucht. Dieser ganze Individualismus! Das ist etwas anderes als Individualität, die wir sehr fördern. Wie soll man Vertrauen aufbauen, wenn alle ihren »Möglichkeiten hinterherjagen«. Deshalb analysieren wir oft, wie unsere Kultur unsere Beziehungen beeinflusst und was daraus Konstruktives werden könnte.

Visionen sollten deshalb so formuliert sein, dass sie Freiraum zu neuen Möglichkeiten öffnen und nicht mit systembedingten Zwängen die Menschen einschränken oder Notwendiges verunmöglichen. Die Grundlage jeder Vision wäre deshalb meines Erachtens: Respekt, Würde, Fairness, Solidarität, Kooperation und die unverhandelbare Sorge um unseren Heimatplaneten.

Quellen und weiterführende Links

  • https://www.boell.de/de/2022/09/29/commons-cecosesola-oder-wie-man-den-markt-ignoriert
  • https://youtu.be/j_YNtwe6-Gw 
  • https://www.boell.de/de/2015/11/02/wir-sind-ein-grosses-gespraech
  • https://amerika21.de/analyse/270447/venezuela-die-versammlung-entscheidet
  • https://taz.de/Alternativer-Nobelpreis-fuer-Cecosesola/!5898416/
  • https://oxiblog.de/marktlogik-ausser-kraft-gesetzt/
  • https://cecosesola.org/wp-content/uploads/2020/06/Auf-dem-Weg.pdf
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Cecosesola#cite_ref-3

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Werner Schuller

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