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Vertrauen – Teil 2 – Freiheit durch Abhängigkeit

Wenn unsichere Zeiten herrschen und das Vertrauen im Aussen schwindet, dann ziehen wir uns instinktiv auf unsere überschaubare Welt zurück. Wir suchen Halt und Sicherheit in der Familie, bei Freund:innen, im Verein, in der Nachbarschaft. Wir versuchen dort den Vertrauensraum zu finden, welcher uns im Aussen fehlt.

Dies ist aber auch die Chance, unsere Gesellschaft wieder von unten vertrauensvoll aufzubauen. Und es ist die natürlichste und bewährteste Methode stabile Gemeinschaften zu bilden, insbesondere, wenn die Begegnung auf Augenhöhe geschieht. 

Was macht eine Gesellschaft aus?

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Was macht aber eine Gesellschaft zu einer Gesellschaft und unterscheidet sie von einer einfachen Ansammlung von Menschen? Es sind die Gemeinschaften. Um all das, was notwendig und wichtig ist, zu realisieren und bereit zu stellen, müssen Menschen zusammenkommen und zusammenarbeiten. Denn niemand kann alles alleine. Nur gemeinsam schaffen wir das. 

Nachbarschaften, Dörfer, Städte, Länder und Staaten, aber auch Unternehmen und Organisationen sind Gemeinschaften. Und auf jeder gesellschaftlichen Ebene organisieren wir uns, geben uns Strukturen, schmieden wir Pläne, formulieren daraus Ziele und stellen dazu Regeln und Gesetze auf. Und durch dieses gemeinsame Tun, gepaart mit Respekt und Vertrauen, schaffen wir Verbundenheit. 

Verbundenheit gibt es nur durch gezieltes Eingehen von Bindungen. Eine Verbundenheit beginnt damit, dass wir bereit sind, andere wahrzunehmen, aufeinander zuzugehen und einander zuzuhören. Wer diese Verbundenheit das nächste Mal bestätigt, indem er zu erkennen gibt, dass «wir uns kennen», begibt sich in eine erste Form von Abhängigkeit: Er initiiert eine Beziehung und verpflichtet sich von nun an diese Person zu (er)kennen. Es entstehen Bekanntschaften.

Damit Gemeinschaften und damit auch Gesellschaften funktionieren, braucht es aber mehr als diese Verbundenheit. Es braucht auch ein bewusstes gegenseitiges Eingehen von Abhängigkeiten durch Verbindlichkeiten.

Warum gegenseitige Abhängigkeit kein Widerspruch zu Freiheit ist

Wenn sich ein Paar entscheidet, Kinder zu bekommen, gehen sie eine neue gegenseitige Verpflichtung ein, nämlich für die Kinder zu sorgen und alles für deren Wohl zu tun. Dabei entstehen existentielle Abhängigkeiten. Vom Kind zu den Eltern und von einem Elternteil zum anderen. 

Wenn sich Menschen zu einer Wohngemeinschaft zusammenschliessen und eine Wohnung oder ein Haus bewohnen, dann gehen sie bewusste gegenseitige Abhängigkeiten ein. Je nach Verbundenheit ist diese eine rein finanzielle (gemeinsam Miete bezahlen), oder auch eine, welche gegenseitige Beziehungen und Zusammenarbeit beinhaltet (gemeinsam Essen, Einkaufen, etc.). Mit entsprechender Rücksichtnahme, Aufgabenteilung und Achtsamkeit.

Erst durch vertrauensvolles und bewusstes sich voneinander abhängig machen, wird so mehr und grösseres möglich. Und durch die dabei entstehenden Synergien können auch mehr Freiheiten und kann eine stärkere Verbundenheit entstehen. 

Auch wenn in unserer freiheitsliebenden Welt Abhängigkeiten sehr negativ besetzt sind und wir viel daran setzen, möglichst in jeglicher Art unabhängig zu bleiben – schleckt es keine Geiss weg: Jeder und jede von uns ist irgendwo und irgendwie von anderen abhängig! Und das ist gut so. Die Stärke einer Gesellschaft definiert sich nämlich darüber. 

Denn Abhängigkeit bildet die Grundlage für Solidarität und Rücksichtnahme. Leben ist gegenseitiger Austausch, ein Geben und Nehmen. Einmal sind wir auf die Hilfe anderer angewiesen und ein andermal sind wir es, welche Hilfe leisten. 

Deshalb gibt es in einer solidarischen Gesellschaft eigentlich keine «Abhängigkeiten». In einer solidarischen Gesellschaft sind dies einfach wechselseitige Verantwortlichkeiten.

«Ablöscher» und «Zünder» einer solidarischen Gesellschaft

In einem Interview zu seinem Buch «Ethik der Verletzlichkeit» spricht sich Giovanni Maio für einen neuen Blick auf den Menschen aus: “Seit den 1970er Jahren hat sich zunehmend eine von der Ökonomie durchdrängte Denkweise etabliert. Der Mensch wurde fortan als autark, selbstmächtig, als Unternehmer seiner selbst betrachtet. Das stört mich. Natürlich ist der Mensch autonom, aber auch in seiner Autonomie bleibt der Mensch verletzlich. Mit der Verletzlichkeit, die beschreibt, dass Menschen aufeinander angewiesen sind, will ich kein gegensätzliches, aber ein komplementäres Bild erzeugen. Wenn der Mensch sich nur als Ich-AG begreift und das Soziale wie ein Unternehmen führt, riskieren wir, das Soziale abzubauen.”

In unserer von Konkurrenz und Wettbewerb getriebenen Welt wird ein sehr individualistisches Menschenbild gepflegt, gefördert und zementiert. Der Mythos, dass jede:r seines Glückes Schmied sei, soll uns zu Höchstleistungen anspornen und auf die Seite der Sieger bringen. Die Schattenseite davon: Jeder Sieg hinterlässt zwangsläufig auch Geschlagene, Erfolglose und Verlierer:innen.

Was unsere Gesellschaft regelmässig belastet oder zu zerreissen droht, ist, dass Solidarität kein Grundprinzip einer Marktwirtschaft ist. Wenn die wirtschaftliche Maxime Wachstum und das Mittel dazu Konkurrenz und Wettbewerb heisst, dann ist das Raubtier in uns gefragt und das Füreinander wird buchstäblich an den Rand gedrängt. Auch wenn ein Unternehmen für ein motiviertes Team das Miteinander beschwört, so dient das letztendlich doch nur dazu, sich gemeinsam im Kampf gegen die «Anderen» (die Konkurrenz) zu behaupten. 

Nicht von ungefähr finden wir deshalb echtes solidarisches Engagement in grösserem Rahmen, hauptsächlich bei Spendenaktionen, bei ehrenamtlicher Care-Arbeit oder bei Non-Profit-Organisationen, also dort, wo versucht wird, die Einschränkungen des Geldes zu überwinden.

Zusammenstehen, Solidarität und Kooperation sind aber menschliche Grundbedürfnisse. Deshalb ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass gerade in grossen Krisen (beispielsweise während der Corona-Pandemie) und Naturkatastrophen (wie Überschwemmungen) dieses Urbedürfnis plötzlich übernimmt, uns in den Modus Mitgefühl setzt und uns wieder Mensch sein lässt. Wir Geben und Nehmen in vollstem gegenseitigem Vertrauen, so als wäre es das Normalste auf der Welt – denn Markt und Individualismus machen jetzt mal Pause.

In ihrem Buch «Ein Hoch auf Euch!» erzählt Annette Schriefers-Falk von der Flutkatastrophe im Deutschen Ahrtal: Zigtausend freiwillige Helfer kommen ins Tal. Bringen Wasser und Essen, Kleidung und Werkzeug. Packen an. Schippen Schlamm aus Häusern, in denen sie nie waren. Helfen Menschen, die sie nicht kennen. Spenden Geld, Hilfsgüter und Trost. Über Wochen und Monate. Einfach so.

Was ich damit sagen möchte: Wir sind nicht wir, nicht Mensch, wenn wir nicht in einer Gesellschaft leben, welche auf unseren Grundbedürfnissen von Solidarität, Mitgefühl, Rücksichtnahme und damit Vertrauen aufbaut. Wir brauchen eine Gesellschaft, welche sich ganz bewusst und vertrauensvoll als Verbund aus ganz vielen existentiellen Abhängigkeiten versteht und uns gerade deswegen sehr viele Freiheiten ermöglicht.

Wie können wir den Fokus in unserer Gesellschaft wieder mehr auf vertrauensvolle Solidarität lenken? Vielleicht, indem wir die gegenseitigen Abhängigkeiten im Alltag wieder sichtbarer machen und verbindlicher pflegen. Damit werden wir uns im dritten Teil dieser Artikel-Serie befassen.

Hast du Vorschläge, wie man die Solidarität und das Vertrauen in unserer Gesellschaft stärken könnte? Und hast du den ersten Teil unserer Artikel-Serie bereits gelesen?

Bild von Werner Schuller

Werner Schuller

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