«Flo! Flo!» Eine quietschende Kinderstimme drang durch die Korridore der kleinen Wohnung. Florianne sass an ihrem Bürotisch, verzog das Gesicht und versuchte angestrengt, den nächsten Satz in ihrem Studienbuch zu lesen. Sie war an diesem Samstagvormittag mit einigen Kindern des Wohnhauses im nahegelegenen Wald spielen gewesen und hatte gehofft, nun etwas Zeit für sich und ihr Studium zu haben. Doch ihre Schwester hatte Schulferien und verstand nicht, warum alle anderen so beschäftigt waren.
«Ich sterbe!», erklang es erneut. Mit einem Seufzen schlug Florianne ihr altes Biologiebuch zu und schlurfte in Richtung Badezimmer. Sie überlegte, ob sie in Zukunft ihre Unibücher auch auf der Podcastplattform der offenen Universität hören soll. Doch das änderte nichts daran, dass jemand auf Sevrina aufpassen musste. Ihre jüngste Schwester sass auf dem Rand der Badewanne und streckte ihr demonstrativ eines ihrer kurzen Beine hin. Sie hatte ein paar Kratzer, da sie gerne auf die Bäume kletterte. Viele dieser Bäume waren in den letzten Jahrzehnten von verschiedenen Vereinen der Stadt gepflanzt worden, um dem Waldsterben entgegenzuwirken.
«Was ist los?», fragte sie, doch sie ahnte schon die Antwort. Sie hatte nach dem heutigen Ausflug vor lauter Erschöpfung nicht mehr daran gedacht, Sevrina nach Zecken abzusuchen. Einem Fingerzeig der 10-Jährigen folgend fand sie tatsächlich einen kleinen schwarzen Punkt, der verdächtig nach dem Hintern eines 8-beinigen Spinnentiers aussah. Die Biester waren früher nie in der Gegend gewesen, doch nun, da es wärmer und feuchter wurde, waren sie überall. Alle wussten, dass Zecken lästige Krankheiten verbreiteten und man aufpassen musste.
Flo wuschelte Sevrina kurz durch ihr lockiges Haar. Das schien sie immer zu beruhigen. Dann holte sie eine Lupe, eine Pinzette und ihr Handy. Sevrina schaute sie mit grossen, feuchten Augen an. Sie versuchte tapfer zu sein, doch es gelang ihr nicht ganz.
«Keine Sorge, ich habe einen Plan. Das wird ein Abenteuer, versprochen.» Nachdem sie beide ein Video geschaut hatten, wie man sicher eine Zecke mit einer Pinzette entfernt, war das Getier auch im Handumdrehen in einer kleinen Alubüchse verschwunden. Zum Glück hatten sie keine anderen Zecken gefunden. Die desinfizierte Bissstelle durfte Sevrina mit einem ihrer Hautstifte umkreisen. Sie malte auch ein paar Smileys und Blümchen auf ihr Bein, damit sich der erste Kreis auf ihrem Bein nicht einsam fühlte. In der Zwischenzeit hatte Florianne im lokalen sozialen Netzwerk des Wohnhauses alle darüber informiert, dass diejenigen, die kürzlich im Wald waren, sich ebenfalls absuchen sollten. Als sie später in der grösseren Gemeinschaftsküche des Wohnhauses auf ein paar besorgte Eltern und neugierige Nachbarn traf, stellte sie ihnen auch eine Citizen Science App vor, bei der man Tipps und Erklärungen erhielt und einen Vorfall mit Bildern festhalten konnte. Zudem lud Florianne sie alle zu einer Vorführung im Quartierszentrum am Montagnachmittag ein.
Das Quartier Mooswanden hatte einen aktiven Quartiersverein und seit zwei Jahren ein sehr modernes Quartierzentrum. Es war nur wenige Gehminuten von Flos und Sevrinas Zuhause entfernt und befand sich im Erdgeschoss eines grossen, ehemaligen Bürogebäudes. Nun waren alle Räumlichkeiten im Parterre Teil des durch Vereine betriebenen Quartierzentrums – inklusive Bistro, Kinderräume, Mehrzweckräume, Bibliothek, Gemeinschaftsgarten und FabLab. Dies war eines der Ergebnisse eines längeren politischen Prozesses, möglichst viel Stadtraum im Erdgeschoss öffentlich zu machen. Eines von Floriannes Lieblingsorten war das FabLab – sie wünschte sich regelmässig, dass sie mehr Zeit hätte, dort zu sein. Wenn sie es schaffte, ins FabLab zu gehen und gleichzeitig weiter auf ihre jüngste Schwester aufzupassen, hatten sie sicher beide etwas davon.

«Flo, was machen wir jetzt mit der Zicke?» Sevrina schüttelte die kleine Alubüchse, in der normalerweise ein verlorener Zahn aufbewahrt wird. Sie und ihre Freundin Yara waren schon den ganzen Montagmorgen aufgeregt gewesen und diskutierten angeregt, ob die Zecke eine Zicke war und was sie mit einer Ziege zu tun haben könnte. Florianne schmunzelte über den neuen Nicknamen der Zecke und über die Vorfreude der beiden Mädchen. Sie alle waren zwar jede Woche im Quartierszentrum, schliesslich war es praktisch ihr gemeinsames Wohnzimmer, doch Florianne hatte ihnen versprochen, ihnen den Keller zu zeigen und sie zu Wissenschaftlerinnen zu machen. Yara und Sevrina redeten daher schon seit gefühlten Stunden darüber, dass sie heute Detektivinnen werden und die Verbrechen der Zecke aufdecken werden. Von Sevrinas anfänglicher Angst war nicht viel übrig geblieben. Florianne erklärte: «Ihr beide werdet sie nun auf Krankheiten untersuchen, damit wir wissen, was wir als Nächstes machen müssen.»
Das FabLab war eigentlich erst ab 14 Jahre zugänglich, doch am Montagnachmittag gab es immer ein Zeitfenster für Familien. Die Kinderwerkstatt wurde meist von Lars geleitet, der Flo in ihrem Vorhaben unterstützen wollte. Zunächst zeigte ihnen Lars den Hauptraum mit mehreren 3D-Drucker an einer Wand und einen kleinen Gravur-Laser sowie einen grossen Lasercutter in einer Ecke.
«Das FabLab ist nichts anderes als eine Werkstatt. Hier können wir etwas mit diesen Maschinen fabrizieren und lernen.» Lars klopfte liebevoll auf einen grossen Kasten. «Hier drucken wir nicht Schrift auf flachem Papier, sondern stehende Figuren wie diesen kleinen Drachen.» Er reichte Yara einen gelben Plastikdrachen, den er gerne den Kindern zeigte. «Dieser Drache wurde übrigens aus dem Plastik gewonnen, das wir im Hinterhof sammeln, rezyklieren und verarbeiten. Doch diese 3D-Drucker machen nicht nur nette Figuren. Wir nutzen sie auch, um andere Maschinen zu bauen. Denn viele Maschinen bestehen aus Plastikteilen, die wir hier drucken und dann wie ein Puzzle zusammenbauen können.»

«Können diese Drucker also alles drucken? Auch ein Fahrrad?», fragte Sevrina. Yara nickte eifrig und fragte ergänzend: «Oder Eiscreme?»
«So einfach ist es leider auch nicht», lachte Florianne. «Wir können einiges drucken, aber nur wenn wir die richtigen Materialien, die richtigen Werkzeuge und vor allem auch das richtige Design haben. Es ist wie wenn wir zum Abendessen nach Rezept kochen. Wenn ein Gericht nach einem Geheimrezept gekocht wird oder ganz spezielle Zutaten braucht, können wir es leider nicht nachkochen.»
«Zum Glück haben wir aber das Rezept für eine Maschine erhalten, die uns mit eurem Zeckenproblem helfen kann», erklärte Lars. Dann senkte er verschwörerisch die Stimme, bis die beiden Mädchen zu kichern anfingen. «Dazu müssen wir aber in unseren geheimen Keller…».
Lars und Florianne begleiteten die Mädchen die Treppe hinunter, die zum BioLab führte. Die Wände waren unverputzter grauer Beton und das Licht grell-weiss. Das BioLab bestand aus drei separaten kleinen Räumen: Dem Vorraum, einem zweiteiligen Labor und dem Lager, mit den Reagenzien und Kühlschränken. Kinder durften nur unter strikter Aufsicht in den ersten Teil des Labors. Sie verbrachten einige Minuten im Vorraum, um sich die Hände zu säubern, Plastikhandschuhe und weisse Labormäntel anzuziehen und Plastiksäcke über die Schuhe zu streifen. Yara und Sevrina fühlten sich in ihrem Aufzug bereits sehr wissenschaftlich und kicherten aufgeregt.
«Das hier ist ein Mikroskop und das ist die PCR-Maschine.» Lars zeigte auf zwei Instrumente im Laborraum. «Wir haben beide Instrumente vor etwa drei Jahren mit den 3D-Druckern oben und ein paar bestellten Teilen zusammengebaut. Das Ethik-Komitee des Vereins hat damals einige Regeln festgehalten, an die wir uns im BioLabor strikt halten müssen. Doch dank diesen Regeln dürfen wir hier unten einige Dinge im Quartier erforschen. Dazu gehört auch die Analyse von Zecken. Zeigt das kleine Ding mal her.»
Sevrina überreichte Lars die Alubüchse mit der Zecke. Sevrina setzte sich auf einen kleinen Hocker und Lars wies sie an, die Zecke mit einer Pinzette auf ein Stück Glas zu legen. Dann stellte Florianne das Mikroskop so ein, dass alle die Zecke anschauen konnten. Nachdem die Mädchen das Spinnentier zugleich bestaunt und als eklig befunden hatten, nahm Lars die Zecke wieder zu sich und bereitete sie für die PCR-Analyse vor.
Florianne erklärte währenddessen: «Diese PCR-Maschine wird nun die Zecke im Innersten anschauen. Sie wird schauen, was die Zecke im Bauch und im Mund hatte, dies auseinandernehmen und wie eine Kopiermaschine kopieren. Diese Kopien können wir auf Krankheiten untersuchen. Das dauert jetzt aber ein paar Stunden. Wollen wir mal eine Pause machen und nach dem Abendessen wiederkommen?»

Sie blieben zum Abendessen alle im Bistro, weil die beiden Mädchen so aufgeregt waren und nicht nach Hause wollten, bis sie die Ergebnisse sehen konnten. Florianne hatte nichts dagegen, schliesslich hatten sie seit dem Frühling so oft beim Gemüseanbau im Quartier mitgeholfen, dass sie noch jede Menge Essensgutschriften übrig hatten. Florianne erkundigte sich daher beim Küchenteam, wie die diversen Anbauprojekte liefen. Der Permakultur- und der Dachgarten liefen gut, nur die vertikalen Gärten hatten immer wieder kleinere technische Probleme. Als sie hörte, dass endlich der erste Zuckermais geerntet wurde, konnte sie ihre Freude nicht verbergen. Der Solargrill war bereits in Gang und Ihnen stand ein wunderbarer Grillabend bevor.
Als es nach einigen Stunden so weit war, lud Lars sie wieder ins BioLabor im Kellerstock ein. Florianne hatte die Ergebnisse bereits digital zugesendet bekommen, doch sie wollten den Mädchen den Spass nicht verderben. Also stiegen sie ein weiteres Mal zum BioLabor hinunter. Lars überreichte Yara und Sevrina je ein kleines Röhrchen mit Flüssigkeit und erklärte: «In euren beiden Proben ist die DNA eurer Zecke drin. Wenn sie unter dieser speziellen Lampe leuchtet, hatte die Zecke eine Krankheit. Falls sie nicht leuchten, war sie gesund. Wir hoffen natürlich, dass sie gesund war. Als Kontrolle habe ich auch eine Probe, von der ich bereits weiss, dass sie leuchten wird – die ist nicht von eurer Zecke und habe ich nur zum Vergleich mitgebracht. Habt ihr Fragen, bevor wir weitermachen?»
Die beiden Proben in den Röhrchen von Sevrina und Yara haben nicht geleuchtet. Sie waren zugleich enttäuscht und froh, dass sie nicht leuchteten. Es bedeutete, dass Sevrinas Zeckenbiss wohl ungefährlich war – dennoch wollten sie die Bissstelle mit der App weiter überwachen.
Florianne musste Sevrina und Yara versprechen, bald wieder so ein tolles Experiment durchzuführen. Sie diskutierten munter, ob sie als Nächstes ein Fahrrad basteln oder doch lieber eine neue Sorte Eiscreme erfinden wollten. Zufrieden machten sie sich auf den Nachhauseweg.
Anmerkung: Diese Kurzgeschichte beinhaltet Ideen von Citizen Science, FabLab/MakersSpace, geteilte Community-Räume und Infrastruktur sowie OpenSource. Inhaltlich passt sie zum Zukunftsszenario «Networked Entrepreneurial Living», welches in einem früheren Blogpost vorgestellt wurde.